„Watt sachste?“ – Zum Tod meines Freundes Wolfgang Motzkau

Am 19. August 2023 haben wir die Asche meines Freundes Wolfagng Motzkau im Friedwald „Wildenburger Land“ beigesetzt, ganz in der Nähe der letzten Ruhestätte seines früheren Kollegen Kurt Schäfer.

Es gab einiges zu sagen, anlässlich seines Todes. Nie ist mir eine Trauerrede schwerer gefallen.

NACHRUF AUF WOLFGANG MOTZKAU

Wolfgang und ich sind uns zum ersten Mal Mitte der 9oer auf bemerkenswerte Weise begegnet. Es war auf eben der Wiese, auf der er gestorben ist. Ich hatte sie gepachtet und wir waren mit zwei Treckern, ein paar Helfern und einem Schwung Kindern zum Hermachen da. Während ich mit der Ballenpresse über die Schwaden fuhr, sprang plötzlich ein kleiner drahtiger Mann auf die Einstiegsstufe des Treckers und brüllte, um den Lärm von Motor und Presse zu übertönen: „ Ich war das!“ . „Was warst du?“ schrie ich zurück. „Ich war das mit den Schafen. Ich will dir jetzt helfen und das abarbeiten“

Im April hatte ich festgestellt, dass Schafe dort noch geweidet hatten, als es längst nicht mehr erlaubt war, weshalb natürlich Futter fehlte. Aber das freiwillige Geständnis und das „ Wiedergutmachungs-Angebot“ rührten mich. Es brauchte mehrere Fahrten und es dauerte bis zum Abend, bis die 450 Ballen in den Scheunen verstaut waren. Wolfgang half bis zum Schluss. Bevor ich ihn zum Bus nach Bergneustadt brachte, ging er mit mir in der Abenddämmerung noch zum Gießen in den Gemüsegarten, dort lief er hin und her und geriet regelrecht in Begeisterung, lauthals rufend: „Wie bei meiner Oma, wie bei meiner Oma!“

Das war der Beginn unserer lebenslangen Freundschaft, die geprägt war von gegenseitiger Hochachtung, obwohl wir auch immer wieder hart und laut aneinander gerieten. Er hieß fortan bei uns eher liebevoll „Raubschäfer“, auch wegen seines provokanten Spruchs: “Nachts, wenn die Bauern schlafen, gehört das Gras den Schafen“.

Seine Oma und sein Opa waren Flüchtlinge aus Ostpreußen und hatten in Niederseßmar einen kleinen Hof gekauft. Ohne Trecker und ohne Pferd haben die beiden mit äußerst harter Arbeit eine bäuerliche Existenz aufgebaut, Opas Fuhrpark bestand aus einer Schubkarre, mit der er in der Derschlager Genossenschaft seine Ein- und Verkäufe abwickelte. In äußerster Sparsamkeit und als Selbstversorger schafften sie es, jedem der vier Kinder zu einem Baugrundstück und einem Haus zu verhelfen, das von Wolfgangs Mutter liegt direkt neben dem früheren Hof.

Nach der Schule machte Wolfgang eine Schlosserlehre bei der Firma Steinmüller und gab sich zum Entsetzen des strengen Opas dem süßen Leben des entfesselten Konsumismus als Motorradfreak hin. Fast jeden 2. Abend drosch er seine italienische Rennmaschine durch die Gegend und ließ den Opa stehen, der machtlos mit dem Knüppel drohte. Wochenenden verbrachte er mit den Kumpeln bei Rennen oder bei exzessiven Saufgelagen in einer Bretterhütte am Waldrand bei Rebbelroth.

In seinem späteren Leben als Wanderschäfer sah er nicht nur seinen Anteil an der „Freizeit-und Spaßgesellschaft“ extrem kritisch und schämte sich dafür, sondern auch sein Arbeitsleben, produzierte die Firma Steinmüller doch Kessel für Kohle-und Atomkraftwerke.

Die Bundeswehr beendete abrupt seine Easy Rider Freiheit.Mit äußerstem Widerwillen folgte er dem Stellungsbefehl und sabotierte und drückte sich, wo er nur konnte. So habe er z.B. bei Schießübungen die Patronen nach und nach in den Sand gesteckt statt sie abzuschießen und sich so die mühsame abendliche Gewehrreinigung erspart. Vielleicht war das der Grund, warum seine Vorgesetzten und die Bundeswehrärzte seine Klagen, dass er immer schlechter sehen konnte, nicht ernst nahmen. Nach der Entlassung stellte man jedenfalls in der Augenklinik fest, dass die Ursache eine Infektion war, die man nicht rechtzeitig behandelt hatte Unheilbar!

Der Schock muss ungeheuer groß gewesen sein, denn der Absturz war total: Sein Leben als normaler Arbeitnehmer war genauso zu Ende wie seine Motorrad-Freiheit. Man beschäftige ihn mehr pro forma noch ein paar Jahre im Lager und schickte ihn dann in seine kleine Rente.

Als Schwerbehinderter war Wolfgang jetzt für den Rest seines Lebens ein Fall für unser Sozialsystem und dessen Angebote: ein Leben verwaltet von Sozialbürokraten, reglementierte Hilfestellungen durch Sozialarbeiter, die vielleicht eine Behindertenwerkstatt oder betreutes Wohnen für angebracht hielten oder ein Heim, weil er seinen Haushalt nicht ordentlich führen konnte.

Jeder, der Wolfgang ein nur ein bisschen kennt, weiß, dass er hochaggressiv und lautstark auf derartige Zumutungen reagiert hätte. Aus meinen Erfahrungen im SSK, der Sozialistischen Selbsthilfe Köln, weiß ich, dass der Platz für solche unangepassten und angeblich dissozialen Behinderten am Ende häufig die geschlossene Psychiatrie ist. Dort hätte man Wolfsgangs aufbäumende Wutanfälle zwangsläufig mit Neuroleptika ersticken müssen, möglicherweise bis er als gebrochener Mensch im chemischen Nebel den Rest seiner Tage hätte verbringen müssen.

Ich nehme an, um die nun leeren Tage irgendwie herum zu bringen, hat Wolfgang sich einem Wanderschäfer angeschlossen und dabei ist wohl seine Liebe zu diesen Tieren entstanden. Es war aber ein zweifelhafter Lehrmeister, der sich nicht an die Regeln hielt und die Bauern gegen sich aufbrachte, Wild -West Schäfer nannte Wolfgang ihn. Ich glaube, dass die sprichwörtliche Freiheit und Ungebundenheit eines Wanderschäfers zu seinem neuen „Easy Rider-Ideal“ wurde, dafür gab er alles.


Später wechselte er zu seriösen Wanderschäfern, half bei allem mit und lernte in der Praxis alles, was die Pflege, das Futter und vor allem auch, was die Krankheiten betrifft. Er besorgte sich zu den Schafs-Krankheiten Fachliteratur, die er abends mit Hilfe seiner „Glasbausteine“, einer Speziallesebrille mit 5 cm dicken Linsen , mühsam durcharbeitete.In den letzten Jahren konnte ich mehrfach Zeuge werden, wie der gelernte Schlosser z. B. mit einer promovierten Mitarbeiterin einer Tierärztlichen Hochschule auf Augenhöhe über ein Schaf mit dem Sommerekzem diskutierte oder Jahre zuvor am Handy fast eine Stunde lang mit einem Professor über die Blauzungenkrankheit. Deren Erreger war wohl ein von einer Saharamücke eingeschlepptes, dem Immunsystem unserer Schafe unbekanntes Virus. Weil diese Mücke wegen der warmen Winter hier überleben konnte, war die Seuche eine Folge der Klimaerwärmung, darin waren Wolfgang und ich uns einig. „Erst die Schafe, dann der Mensch“, war seine Prognose, die Pandemie hat diese auf drastische Weise bestätigt.

Wolfgang verbarg lange, dass er ein schweres Kindheitstrauma mit sich herumschleppte.Er hatte immer gesagt, dass sein Vater tot sei. Als wir uns bereits viele Jahre kannten, erzählte er aber nach einem Streit, dass dieser in Wahrheit in Ründeroth mit einer anderen Frau lebe.

Er habe seine Schwester und ihn schwer mißhandelt, das Schlimmste sei gewesen, wenn er in den stockdunklen Kohlenkeller eingesperrt worden sei. Die im Nebenhaus lebende Tante sei schließlich zum Jugendamt gegangen, das habe dem zwischenzeitlich verschwundenen Vater das Sorgerecht entzogen und ihr die Pflegschaft übertragen, weil die Messi-Mutter mit der Erziehung wohl überfordert war.

Der Hof von Meggie Lück und mir wurde für Wolfgang zu einem wichtigen Ort für sein weiteres Leben, nicht nur wegen unserer praktischen Zusammenarbeit oder dem Schutz, den ich als erfahrener SSK-Kämpfer Behörden gegenüber leisten konnte, sondern vor allem wegen der Diskussionen und Gespräche über den bedrohlichen Zustand der Welt.

Die hatten nach dem Tschernobylschock 1986 im SSK begonnen und wurden in größerem Kreis auch mit Wissenschaftlern wie der Soziologin Maria Mies oder dem Biologen Peter von Dohlen fortgesetzt.

Wir waren uns einig, dass der beginnende neoliberale Wachstums- und Konsumkapitalismus die biologischen Lebensgrundlagen und die sozialen Strukturen zerstören würde. Es müsse ein Gegenmodell im Sinne der

Subsistenzwirtschaft aufgebaut werden. Eine Wirtschaftsweise, die selbstgenügsam aus sich heraus besteht und mit einfachen Mitteln Kreisläufe schließt. Im Unterschied zu Biohöfen war eine möglichst positive Energiebilanz unsere oberste Maxime.

Erbschaften ermöglichten Meggie und mir den Versuch, das auf einer kleinen heruntergekommenen Hofstelle in Hüngringhausen auszupro-bieren . Gleichzeitig verwirklichten SSK Leute um Klaus Breidenbach und Peter Hahner in Eckenhagen eine Kompostieranlage nach demselben Prinzip.

1990 haben Meggie und ich diese Ideen in einer Broschüre mit dem Titel „Land in Sicht“ aufgeschrieben, in der bereits die Subsistenzperspektive zur Verhinderung der kommenden Klimakatastrophe dargestellt wird. Wolfgang hat die Broschüre sorgfältig mit Hilfe seiner „Glasbausteine“ studiert und hat rückblickend den vorher verhassten Hof von Opa und Oma achten gelernt. Seine Wanderschäferei, ausgestattet mit dem Nötigsten, alles zu Fuß, war ja ebenfalls ein Subsistenzprojekt.

Von unserem Hof gingen auch politische Aktionen aus, an denen er sich beteiligte. So an der Attac-Gruppe, die erfolgreich ein halb kriminelles 200 Mio Dollar Cross-Border-Leasing Geschäft des Aggerverbands mit 52 Kläranlagen verhindern konnte. Oder am „Netzwerk Gentechnikfreies Oberberg“. Er war dabei, als wir mit mehreren Treckern zwei Tage lang mit anderen Initiativen vor den Kölner Messehallen gegen die erste Konferenz internationaler, zumeist Monsanto-Gentechniker in Europa demonstrierten. Oder wenn wir hier in Oberberg mit dem Trecker und dem Attac-Anhänger Ostermärsche oder andere Demos begleiteten.

Wolfgang war stets bestens informiert über die bedrohliche Lage der Menschheit was Klimaerhitzung, Artensterben und die heraufziehende Welternährungskrise betrifft. Er hatte die Zusammenhänge besser verstanden als die Mehrheit meiner akademisch gebildeten Bekannten und Freunde. Nachts hörte er auf WDR 5 die Wiederholungen der Wissenschaftssendungen und mindestens alle 2 Tage tauschten wir unsere Informationen zu den zunehmenden Dürren, Stürmen und Starkregenereignissen aus und verzweifelten mehr und mehr an der kriminellen Ignoranz von Politik, Wirtschaft und Konsumenten.

Dass wir auf der „Highway zur Hölle sind, mit dem Bleifuß auf dem Gas“, so der UNO-Generalsekretär, scheint kaum einen zu interessieren, aber für mich mit dem weiter sterbenden Wald und dem austrocknenden Gemüsegarten ist es zunehmend bedrohliche Realität. Erst recht für den halb-blinden Wanderschäfer, der auf die kleinen Bäche in den Siefen angewiesen ist, die inzwischen regelmäßig austrocknen, wie ja auch die Weiden. Seit der Wald an den Berghängen verschwunden ist, könne man es auf seiner Grünfläche an der Agger an den Hitzetagen nicht mehr aushalten, so Wolfgang. Kasimir traf ihn klitschnass an, weil er sich zum Abkühlen mit allen Klamotten einfach in die Agger gelegt hatte.

Große Sorgen machte er sich auch wegen des anwachsenden Rechtsradikalismus, der durch die heraufziehende Wirtschafts- und Ernährungkrise weiteren Zulauf bekommen würde.

Auch das war für ihn längst keine abstrakte Zukunftsbedrohung, sondern eine ständige gegenwärtige Gefahr. Immer wieder wurde er in den letzten Jahren als sehbehinderter Mensch Opfer von rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen. Vor allem dann, wenn er abends nach der Arbeit mit den Schafen, manchmal mit beschmutzter Arbeitskleidung und nach Schaf riechend, auf den Bus warten musste: Penner, Spasti, Zecke usw.

Bei den verbalen Angriffen blieb es nicht. In den letzten Jahren wurden einmal ein Viehanhänger und einmal ein Schuppen abgeflämmt, einmal wurde ein Hochsitz,den er benutzen durfte,mit samt seiner Habe vandalistisch zerstört und verwüstet. Anzeigen blieben ergebnislos, obwohl einmal die Freundinnen der Jugendgang namhaft gemacht werden konnten.

Hätte es solche Brandstiftungen etwa bei dem Gartenhaus des Landrats oder von anderen Angehörigen der Oberschicht gegeben, dann wäre die Polizei natürlich mit einem ganz anderen Ermittlungsaufwand vorgegangen und hätte im Fall der Hochsitzzerstörung mit Sicherheit die Bande geschnappt. Und Wolfgang somit zukünftige Überbegriffe erspart.

Polizei und Behörden verfuhren immer nach demselben Muster, wie bei einem Übergriff des Hausmeisters der Theodor Heuss Stiftung: Der schmiss Rasenschnitt einfach über den Zaun auf Wolfgangs Schafweide, woraufhin ein Schaf an einer Kolik elendiglich verreckte. Trotz wüten-dem Protest von Wolfgang geschah das ein zweites Mal. Als auch das zweite Muttertier trotz seiner Rettungsversuche verendete, rannte er vor Wut und Verzweiflung schreiend auf der Weide hin und her, wüste Drohungen gegen den Hausmeister ausstoßend. Wolfgang wurde deshalb bestraft, der Tierquäler und Schafmörder blieb unbehelligt.

Es häuften sich derartige Vorfälle und es sammelten sich bei den Behörden Aktenvorgänge im Zusammenhang mit dem Schäfer. Häufig ging es darum, dass Angehörige der „ Freizeit und Spaßgesellschaft“ ihre Hunde frei laufen ließen, die dann in Wolfgangs Herde einfielen und Schafe hetzten oder verletzten. Die Folge derartiger Übergriffe war nicht etwa eine bessere Durchsetzung der Rechte des sehbehinderten Schäfers durch Polizei und Behörden, sondern die Vorladung eines Psychiaters vom Gesundheitsamt.  


Dies hätte der Beginn einer Karriere als Psychiatriepatient sein können, in der Wolfgang vermutlich immer wieder oder für lange Zeit wegen seiner Aufsässigkeit in der Geschlossenen gelandet wäre.

In diesem Fall reichte meine Begleitung, welche dem Psychiater die harten Auseinandersetzungen des SSK mit der Anstaltspsychiatrie in Erinnerung rief, um von Wolfgang abzulassen.

Den Versuch eines Anwalts, Wolfgang einen Vermögenspfleger zu verpassen, konnten wir vor Gericht abwehren.

All diese demütigenden Vorgänge haben Wolfgang aber immer aufs Neue signalisiert, dass er nicht in die Normalgesellschaft gehöre, dass er minderwertig sei und sich mit seinem Platz als Hilfsempfänger abfinden müsse.

Die Normalgesellschaft durfte Wolfgang auch bei einem anderen Vorfall kennenlernen. Im Bus beugte sich ein Mann, der ihm als Bergneustädter Neonazi bekannt war, in Richtung einer dunkelhäutigen Frau vor und schrie sie hochaggressiv an: „ Mach das Handy aus und halt deine verdammte schwarze Fresse!“

Als der Fahrer einschritt, ging er auf diesen los und beschimpfte und bedrohte ihn, weil er solche Untermenschen befördere. Der Fahrer hielt den Bus an und rief die Polizei, welche dann die Personalien des Nazis aufnahm und ihn aus dem Bus entfernte. Als die Beamten die Personalien der gut 10 anderen Fahrgäste wegen Zeugenaussagen aufnehmen wollten, hatten sie alle leider diesen rassistischen Exzess nicht mitbekommen. Soviel zur charakterlichen Behinderung der „deutschen Normalgesellschaft“! Mit Wolfgang verfasste ich seine schriftliche Zeugenaussage für den Staatsschutz, wodurch er als einziger Zeuge neben dem Busfahrer natürlich ein weiteres Mal ins Fadenkreuz der Rassisten und Nazis geriet.

Einige Wochen vor seinem Tod wartete er gegen Mitternacht an der Halte-stelle in Dieringhausen auf den Bus. Er hatte so spät noch hüten müssen, weil die Schafe an dem Hitzetag erst abends zu fressen begannen. Da tauchten wieder 4 Jugendliche auf, die ihn beleidigten und verhöhnten.Als der Bus kam und Wolfgang einsteigen wollte, kam einer und schlug ihm von hinten mit Wucht eine Eisenstange auf den Kopf. Der Busfahrer rief die Polizei, als die eintraf, war die Gang natürlich verschwunden. Mit einer Platzwunde und schweren Kopfschmerzen erschien er am nächsten Tag in Bomig bei den Schafen, Sandra und ihr kleiner Sohn kümmerten sich um die Herde, damit er sich ausruhen konnte. So weit ich weiß, hat Wolfgang seitens der Polizei oder anderen Behörden bis zu seinem Tod nichts mehr davon gehört.

Stellen wir uns vor, es hätte einen derartig brutalen Angriff einer rechten Schlägertruppe auf einen Lokalpolitiker oder irgendeinen hiesigen Promi gegeben: Sofort wäre eine Sonderkommission zusammengestellt worden und hätte wegen versuchtem Mord ermittelt, wochenlang hätten die Medien berichtet, in Leserbriefen hätte man härteres Durchgreifen gefordert, „Oberberg ist bunt, nicht braun“ hätte eine Mahnwache abgehalten usw. ….

Aber nichts dergleichen bei dem unliebsamen, sehbehinderten Schäfer. Es wird ja irgendein Ermittlungsverfahren gegeben haben, aber wohl eher auf der Ebene eines Nullachtfuffzehn-Blechschadens, unter ferner liefen.

Deutlicher kann der Staat einem Bürger nicht zu verstehen geben, dass er nicht dazu gehört, ausgeschlossen ist aus der normalen Gesellschaft, wert-los,wie menschlicher Müll.

Was für ein Lebensgefühl mag es wohl sein, wenn man wie Wolfgang auf den Bus angewiesen ist und jederzeit bei Tag damit rechnen muss, angepöbelt und beleidigt und bei Dunkelheit zusammengeschlagen zu werden? Und ständig erfährt, dass es die Behörden nicht sonderlich interessiert?

Eine offensichtliche, demütigende Missachtung war es auch, dass er immer wieder um sein Recht kämpfen musste, wonach der Jagdpächter die Wildschwein-Schäden beseitigen und den Futterausfall bezahlen muss. Das war bei seiner Hofwiese auch dieses Jahr der Fall.

Im Frühjahr hatte sich der Jagdpächter bei einem Ortstermin mit dem Ordnungsamt verpflichtet, die Schäden beheben zu lassen. Er hat aber nur einen Teil der aufgewühlten Böden fräsen und walzen lassen, dabei arg-listigerweise keinen Grassamen in die Maschine eingefüllt, so dass kein Futtergras nachwachsen konnte. Danach kamen die Schweine noch zwei-mal, das Ordnungsamt lehnte es aber ab, die neuen Schäden aufzunehmen mit der offensichtlich falschen Begründung, es handle sich um die alten, bereits verhandelten.

Weil die Biostation die artenreiche Wiese fördern wollte, rief ich den Eigentümer an, um eine Unterschrift einzuholen und erfuhr, dass der die Wiese ein paar Tage zuvor dem Jagdpächter verkauft hatte. Da der reiche Dieselhändler ja mit der Wiese nichts anfangen konnte, ging es allein um die Vertreibung des Schäfers. Ohne diese Hofwiese aber hätte Wolfgang seinen Betrieb aufgeben müssen, der Schock war entsprechend groß. Wir fanden aber den rettenden Ausweg: Das landwirtschaftliche Vorkaufsrecht. Da seine Ersparnisse für den Kaufpreis reichten, habe ich für Wolfgang einen Brief an die Landwirtschaftskammer verfasst und das Vorkaufsrecht beansprucht. Wolfgang wäre Eigentümer geworden.

Am Morgen des 12. Juli unterschrieb Wolfgang den Brief; während ich ihn zur Post brachte, packte er sein Bündel, ging zur Wiese, kündigte den Brief unterwegs per Handy bei der LWK an und bekam eine eiskalte Dusche: Er sei mit seinen 7,5 ha vom Vorkaufsrecht ausgeschlossen, das gelte nur für Betriebe mit mehr als 8ha. Weitere Anrufe des geschockten Schäfers wurden mit der Bemerkung quittiert, so sei eben das Gesetz.

Auf der Wiese angekommen, ließ Wolfgang seine Schafe frei und nahm sich das Leben.

Mich erinnert das an eine Treibjagd.

Diese Enttäuschung war nach all den anderen diejenige, die zuviel war. Zum Schluss wurde der sehbehinderte Schäfer also auch noch Opfer eines staatlich geförderten, neoliberalen, mörderischen Wachstumskapitalismus, der unter Verstoß gegen das Gleichbehandlungsprinzip die Kleinbauern verdrängt, damit die Großen noch weiter wachsen können. Dabei hätte er für seine Lebensleistung höchste staatliche Anerkennung verdient (z. B. den Rheinlandtaler des LVR), hat es doch einer unglaublichen geistigen und körperlichen Kraftanstrengung bedurft, damit dieser schwerbehinderte Mensch sich aus der Rolle eines staatlichen Hilfsempfängers befreien, gegen enorme Widerstände einen landwirtschaftlichen Betrieb gründen und eine selbstbestimmte Existenz als Wanderschäfer aufbauen konnte.

Wolfgang war, wie gesagt, besser informiert über die drohenden Menschheitsgefahren durch das Klimadesaster und das Artensterben als viele meiner akademisch gebildeten Freunde und Bekannten. Er hatte die ökologischen Zusammenhänge unserer natürlichen Lebensgrundlagen verstanden und erlebte deren fortschreitende Zerstörung ja auch hautnah. Wir teilten ähnlich radikale politische Positionen, Wolfgang die härtere.

Einig waren wir uns aber darin, dass gegenüber dem WeiterSo der Regierung beim grün lackierten Wachstumskapitalismus und dem kriminellen Überkonsum der Wohlhabenden und Reichen Widerstand berechtigt und notwendig sei: Auch radikaler noch als der, den die verzweifelten, tapferen Menschen der Letzten Generation leisten.

Einige Wissenschaftler vergleichen seit langem die fortschreitende Schädigung der Atmosphäre mit einem Krieg gegen das Klima, welches immer härter zurückschlagen werde. So gesehen führt der reiche Teil der Menschheit einen Völker- und Menschenrechtswidrigen Angriffskrieg gegen unser aller Lebensgrundlagen: Seine Kriegsmarine besteht aus monströsen Kreuzfahrtschiffen, seine Luftwaffe aus abertausend Ferienfliegern, welche gemeinsam mit zahl-losen Verbänden von SUV-Panzern Tag für Tag Zerstörungen anrichten, welche in der Konsequenz einem Atomkrieg nahekommen werden.

Es ist dieser Überkonsumismus den Wolfgang mit dem Begriff „Freizeit-und Spassgesellschaft“ bedachte und deren Vertretern galten regelmäßig seine lautstarken Beschimpfungen.

Einig waren wir uns darin, dass jede wirklich „werteorientierte“ Regierung sofort radikal bei der Produktion und dem Verbrauch von Luxusgütern abrüsten müsste und dass die unsere aber das genaue Gegenteil tut. Und dass jeder Mensch, der guten Willens ist, diesen Kriegs- bzw. Konsum-dienst verweigern müsste. Und so das nicht geschieht, es aus ethischen Gründen geboten wäre , diese Klima- Kriegsmaschine zu blockieren, zu sabotieren und deren Angriffs- Waffen zu zerstören, notfalls auch mit Gewalt.

Oder besser noch: Schwerter zu Pflugscharen zu machen: Die Flieger zum Feuerlöschen umzubauen und den armen Ländern zu schenken, die Kreuzfahrtschiffe enteignen und an die absaufenden Elendsstädte des Südens andocken, wo sie mit ihrer perfekten Infrastruktur einer europäischen Kleinstadt, mit regenerativer Energie betrieben, Krankenhäuser, Schulen und klimagerechte Gewerbebetriebe aufnehmen könnten. Hinsichtlich einer Weiterverwendung der SUVs blieben wir ratlos und kapitulierten angesichts deren kompletter Nutz- und Sinnlosigkeit.

Dass solche Überlegungen Träume bleiben, die an der Realität scheitern, das wussten wir beide. Und regelmäßig machte sich deshalb Verzweiflung breit.

Auch Wolfgang sah die große Gefahr, dass die kommenden Mangellagen und Ernährungskrisen viele unserer Mitbürger in die Arme der Rechts-radikalen mit ihren einfachen „Lösungen“ treiben werde. Bei seinen vielen Gesprächen mit Spaziergängern beim Schafehüten traf er immer öfter auf AfD-Anhänger. Als schlimmer noch empfanden wir beide das rasante Abdriften des gesamten Parteienspektrums nach rechts und dass eine Art Wohlstandsverteidigungsfaschismus in der Festung Europa die Oberhand zu gewinnen scheint.

Düstere Aussichten auch und gerade für Menschen mit Behinderung. Soeben hat Höcke ja mit der Ablehnung der Inklusion, weil behinderte Menschen die „Normalen“ und ihre Einrichtungen stören und schädigen würden, die Tür für die „ Aussonderung der Entarteten“ ,wie es vor 45 hieß, ideologisch wieder geöffnet. Damals haben die Nazis mehr als 200 000 von ihnen als „unnütze Esser“ und „Ballastexistenzen“ vernichtet.

Wolfgang hätte sicher dazu gehört.

Eine Woche nach seinem verzweifelten „Freitod“, der so gar nicht „frei“ war, bin ich mit Casimir zur nächst gelegenen nationalsozialistischen „Euthanasie“- Tötungsanstalt in Hadamar gefahren, die als Gedenkstätte noch vollständig erhalten ist.

Das wirklich Entsetzliche daran ist der Charakter einer mit deutscher Gründlichkeit eingerichteten ganz normalen Handwerksfirma mit optimierten, arbeitsteiligen Abläufen: von der Ankunftshalle für die grauen MAN-Busse mit zulackierten Fenstern, der Registrierung, dem Auskleideraum, der als Dusche getarnten Gaskammer, dem Sektionsraum mit Seziertisch für medizinisch interessante Leichen, dem 20 m langen Gang zu den Verbrennungsöfen, gefliest, damit die Leichen beim dahin Schleifen besser rutschen. Auf einem Foto posiert gut gelaunt die ca 30köpfige Belegschaft, für die es nach einer Eingewöhnungsphase offensichtlich ganz normale Arbeitsplätze waren. In 7 Monaten haben sie 10 270 Menschen vergast und verbrannt, beim 10 000sten hat der „Betriebsleiter“ Bier ausgegeben, um den Erfolg zu feiern. Das Opfer, ein Mann mit Wasserkopf, lag dabei noch auf dem Seziertisch. Das meinte Hannah Arendt wohl mit der „ Banalität des Bösen“.

Auf der Heimfahrt bekam ich Zeilen aus Paul Celans „Todesfuge“ nicht mehr aus dem Kopf:

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, er ruft streicht dunkler die Geigen, dann steigt ihr als Rauch in die Luft, dann habt ihr ein Grab in den Wolken, da liegt man nicht eng…..Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“

Seit meiner 68er Zeit war die Vernichtung sog. „unwerten Lebens“ durch die Nazis und der Kampf im SSK gegen die bis in die 80er anhaltenden Menschenrechtsverletzungen durch Nazigeist und Nazipersonal in der Anstaltspsychiatrie und in den Erziehungsheimen ein großes Thema meines Lebens. Immer noch setze ich mich dafür ein, endlich die ober-bergischen Krankenmorde und Zwangssterilisierungen aufzuklären und die Täter zu benennen.

Aber gerade Wolfgangs Leben und Wolfgangs Tod nähren in mir die lähmende Befürchtung, dass die monströsen Menschheitsverbrechen der Nazizeit nicht nur (teilweise unaufgearbeitete) Vergangenheit sind, sondern wieder zu einer schrecklichen Gegenwart werden könnten.

Es kann sein, dass manche es als unpassend empfinden, dass ich solche politischen Ausführungen bei einer Trauerfeier mache. Ich habe es getan, weil ich sicher bin, dass Wolfgang genau das von mir verlangt.

Er wird mir als Freund fehlen, als kompetenter Gesprächspartner und vor allem als einer, der niemals Ruhe gab. Und ich werde eine laute Stimme am Telefon vermissen, die sich nicht mit Namen meldet, sondern immer nur mit dem Spruch: „Watt sachste“  


Auf der Download-Seite gibt es weitere Texte zu Wolfgang, verfasst von Freunden.