Mein Freund Kurt Holl

Geschrieben als Nachwort zu Kurts Autobiografie , erschienen in der edition fredebold, ISBN: 978-3-944607-21-4

Irgendwann 1968, Haupteingang Uni, die Eingangshalle voller Studenten. Wir „Antiautoritären“ stehen vor dem Zugang zum Rektorat auf der obersten Treppenstufe und ich halte eine Ansprache.

Da drängt sich von hinten Kurt heran, unterm Arm einen Eierkarton. Eins davon klatscht er mir auf den Kopf, es entsteht ein kleiner Tumult. Ossi, dem Bundeswehrdeserteur vom Salierring gelingt es, Kurt den Karton zu entreißen und ein Ei auf seinem Haupt zu zerschlagen, die übrigen zermatschen im Gedränge, mitten drin zwei bekleckerte Revoluzzer: kein schlechtes Happening!

Wir vom „SDS- Antiautoritär“ (Stadtanzeiger: „Linker Wanderzirkus“) waren wohl auch für Kurt in einer Aktion zu weit gegangen, aber er reagierte nicht mit den üblichen bierernsten belehrenden Traktaten über Voluntarismus, blinden Aktionismus etc., sondern auch antiautoritär.

So konnte 1968 eine lebenslange Freundschaft beginnen.

Für mich war Kurt damals im linken Spektrum nicht einzuordnen. Von seinem Äußeren, seiner Sprache und seinem enormen theoretischen Wissen her eher ein traditioneller Marxist, war er aber im Unterschied zu den knöchernen Theoretikern der Weltrevolution ein phantasievoller  Freund der direkten Aktion. Uns verband die Lust daran, auf alle erdenklichen Arten die verschiedenen „Obrigkeiten“ herauszufordern, sie zu verspotten, zu verhöhnen und ihnen dadurch Angst einzujagen, dass wir ihre (Hack)0rdnungen möglichst nachhaltig durcheinander brachten. Und auf diese Weise vor den Kommilitonen und uns selbst zu demonstrieren, dass all die großen und kleinen Kaiser splitternackt waren.

Das war auch deshalb nötig, um uns von den Fesseln der Unterdrückung zu befreien, welche aus dem anerzogenen Respekt und der antrainierten Unterwürfigkeit vor Amt und Würden und aufgeplusterten Honoratioren herrührte.

Unser beider Biografien waren sehr unterschiedlich: Dort der vaterlos aufgewachsene Kurt mit dem Foto des gefallenen SS Helden auf dem „Hausaltärchen“ und seinen Erfahrungen mit Krieg und Trümmern, hier meine unbeschwerte Dorfkindheit mit dem Wehrmachtsoffiziersvater, der als sozial engagierter Kommunalpolitiker „gute Werke“ tat, aber im Elend des Alkoholismus endete. Schwer traumatisiert – wie ich später begriff- wegen seiner Beteiligung an den rassistischen Verbrechen im Osten.

Beide Väter haben uns wortlos die nationalsozialistischen Verbrechen in die Wiegen gekippt, wir mussten uns mit dem Holocaust auseinandersetzen, ihre ganze Generation verschwieg ihr Wissen darum und verleugnete ihre jeweiligen Beteiligungen. Rückblickend glaube ich heute, dass Kurts Einsatz für die Menschenrechte von Roma und der meine in der Sozialistischen Selbsthilfe Köln (SSK) für die rechtlosen Insassen von Heimen und Psychiatrien unterbewußt vielleicht auch ein Versuch war, die bedrückende Schuld unserer Naziväter durch das Eintreten für ihre Opfer von unseren Seelen abzulösen. .

1967 habe ich mein damaliges Lebensgefühl, die Sehnsucht, Beklemmung, Wut und Abscheu, durch Polithappenings zum Ausdruck gebracht, zusammen mit einer „bunten Truppe“ von Menschen aus der Uni und von außerhalb. Da war der ältere Kurt schon lange ein politischer Aktivist.

Aber es hat uns mit ihm das Grundgefühl verbunden, außerhalb dieser Gesellschaft zu stehen. Und die Ablehnung dieses Adenauer-Globke–Abs Staates, aus dessen blank polierten Kulissen der tausendjährige Leichengestank von Auschwitz hervortrat, die Verachtung der Lügen, der hohlen Autoritäten, des um sich greifenden „american way of life“, dieses „bewußtlosen Konsumismus“ (Pasolini), unter dessen Müllbergen neben der Menschenwürde auch Liebe, Poesie und Schönheit begraben wurden.

Das war nicht unsere Welt. Wir fühlten uns denen in den USA nahe, die ebenfalls vom System ausgespuckt wuren, gepeinigt, gedemütigt, ermordet. Sie schickten uns ihre Träume in Form von Musik und Literatur.

Mein letztes, sehr intensives Zusammentreffen mit Kurt war Karfreitag 2014. Er war mit Richie Pestemer zu Besuch auf unserem Subsistenzhof und es wurde eine sehr lange Nacht, die im Rotweinbesäufnis endete.

Uns beschäftigten alle die Fragen, mit denen Kurts Biografie endet und die er in der für uns 68er provokanten Überschrift zusammengefasst hat: Neues Einverständnis mit den Mächtigen? Wir waren uns einig, dass die globalen und lokalen Verhältnisse seit 68 nicht etwa freier, friedlicher und gerechter geworden sind, im Gegenteil.

Kurt haderte mit der Passivität der Jüngeren, ihrer gleichgültigen Ignoranz, mit der sie ihr persönliches Wohlbefinden zur obersten Maxime machen, ihrer geschmeidigen Anpassung an die Ausbeutungskultur der Industrieländer, ihr Mitläufertum bei der konsumistischen Ausplünderung der Erde.

Ich fand die Analyse richtig, aber den Vorwurf nicht ganz berechtigt, denn er trifft zuallererst uns selbst, die 68er und erst in zweiter Linie die Jüngeren und zuletzt die ganz Jungen, die Enkel. Denn unsere Generation ist es ja, die an den Leimruten des hedonistischen Konsumismus kleben geblieben ist, welche der Kapitalismus überall ausgehängt hat, leider trifft das auch auf die meisten der damaligen Genossen zu. Wenige haben sich wie Kurt gegenüber diesen Verlockungen weitgehend resistent gezeigt. In Wahrheit sind viele Genossen in links-alternativem Gewand dieselben egomanischen Spießbürger geworden wie unsere verachteten Eltern zu NS Zeiten . Ihr Lebensstil unterscheidet sich hauptsächlich im Outfit, nicht aber im Grad der Ausbeutung von Arbeitssklaven in den Ländern des Südens. Auch sie fahren zu fette Autos, auch sie fliegen bedenkenlos in die Urlaubsregionen, auch sie nehmen, was sie kriegen können, auch sie interessieren sich nicht für die schädlichen Folgen ihres Lebensstils für Biosphäre und Klima.

Kurt gehört zu den Wenigen, die dem Konsumkapitalismus nicht verfallen sind. Seit ich ihn kenne, wohnte er in derselben Altbauwohung am Friesenwall und es waren gerade seine materiell bescheidenen Bedürfnisse, welche ihm die Freiheit zum lebenslangem Widerstand verschafften und die Gehirnwindungen nicht mit Konsumbedürfnissen verklebten. Diese Haltung war wohl das Fundament unserer Freundschaft

Am Ostersamstag fuhr ich stark verkatert mit meinem jungen Helfer Philipp den Traktor mit dem Attac-Protesthänger (Eine andre Welt ist möglich) zum Gummersbacher Ostermarsch, Kurt und Richie kamen zur Kundgebung hinterher. Ich durfte dort eine Rede halten, die ich zum größten Teil mit den radikalsten antikapitalistischen Zitaten bestritt, die ich damals finden konnte.

Sie stammten nicht etwa vom linken Bundestagsklassenclown Gysi, nicht von der linksradikal auftretenden Dame Wagenknecht, nicht von irgendwelchen Freizeitautonomen, sondern von einem dicken, als Papst verkleideten Argentinier, der persönlich bescheiden lebt und seine Erfahrungen aus südamerikanischen Elendsvierteln in so scharfe Worte fasst, dass sie als Aufruf zu einem weltweiten Aufstand verstanden werden können. In der moralisch verkommenen Kurie wird er dafür als „Kommunist“ gehasst.

„Wir müssen heute ..ein NEIN zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen sagen. Diese Wirtschaft tötet!“

„Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. …Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete“ , sondern Müll, Abfall.“

„Die Anbetung des goldenen Kalbs hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in einer Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel“…. „Es entsteht eine neue unsichtbare … Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und Regeln aufzwingt.“

Während das diesjährige „68er-Jubiläum“ teilweise kritiklos wie ein linker Heldendenktag gefeiert wird, haben sich die von Kurt beklagten Verhältnisse seit seinem Tod rasant verschärft.

Während wir uns müde, satt und empathieunfähig auf die Schultern klopfen und an der AfD abarbeiten, nehmen wir es achselzuckend hin, dass das ganze Parteienspektrum nach rechts rückt und am Horizont ein neuer westlicher Faschismus erscheint. Nach anfänglicher „Willkommenskultur“ geht nun nicht nur das „Trump-Amerika“, sondern auch unser angeblich humanes Europa mit äußerster Brutalität gegen seine Opfer vor. Die Wohlstandszonen werden militärisch abgeschottet, Hunger, -Kriegs- und Klimaflüchtlinge lassen wir in Nordafrika von als Küstenwache titulierten Warlords-Banden einfangen und zur Abschreckung in KZ-artigen Lagern malträtieren. Nordafrikanische Despoten errichten eine Sperre quer durch den Kontinent und jagen die Elenden in die Wüste zurück, wo sie fern von unseren Augen und Kameras verdursten: Mit unserm Geld, mit unseren Waffen, in unserem Namen!

Wir nähern uns einer düsteren Vision: Schwindende Ressourcen durch Umweltzerstörung auf der einen und zunehmendes Bevölkerungswachstum auf der anderen Seite könnten zu immer rücksichtsloseren Kämpfen um die knappen Lebensgrundlagen führen. Die NS-Rassenideologie wäre dann möglicherweise erneut die Grundlage dafür, dass eine Minderheit von „Herrenmenschen“ weiter in obszönem Wohlstand leben kann, weil Milliarden „Untermenschen“ als Arbeitssklaven nur minimal versorgt werden müssen und als „Lebensunwerte“ definierte Bevölkerungsteile in vielfältigen Formen der Vernichtung anheim gegeben werden.

Während die durch unseren „zügellosen Konsum“ angeheizte Klimaerwärmung bereits riesige landwirtschaftliche Flächen durch Dürren, Brände, Überschwemmungen zerstört hat, prognostiziert die UNO für 2050 fast 10 Milliarden Menschen !

Trotz dieser Gefahren ist es aber immer noch möglich, Schluss zu machen mit der kapitalistischen Wachstumswirtschaft und ihrem Zwillingsbruder Konsumismus, die Geldtyrranei zu stürzen und eine gerechtere Verteilung der Güter zu schaffen, die erträumte andere, friedlichere Welt möglich wird. Ein neuer Faschismus ist eben nicht unausweichlich.

Wenn wir nicht als Nutznießer und Mitläufer an der neoliberalen Zerstörung einer für alle bewohnbaren Erde enden wollen, müssen wir wohl materiellen Verzicht üben und eine neue Form der Solidarität mit den versklavten Völkern im Süden finden; und ihre Aufstände gegen das ausbeuterische westliche Imperium unterstützen, damit diese nicht weiterhin von religiösen Fanatikern vereinnahmt werden können.

Es gibt ja weltweit auch ermutigende Beispiele: Von den Zapatisten in Mexiko bis zu den Postwachstumsökonomen und den jungen „Ende- Gelände- Klimaschutz-Kämpfern“ hier bei uns.

Aber es ist für Altachtundsechziger wie Kurt und mich alles in allem eine nicht leicht zu ertragene Bilanz: Der Kampf gegen den Nazirassismus hat unser Leben seit dem Erwachsenwerden bestimmt. „Nie wieder Faschismus“, das jedenfalls erschien all die Jahre als gesichert; wie bedrückend, dass dieser absolute Tiefpunkt menschlicher Existenz doch wieder – in globaler Ausprägung – vor uns, unseren Kindern und Enkeln liegen könnte.

Also gilt es, die Gegenkräfte zu stärken, die sich ja bei vielen jungen Menschen zeigen, die zwar nicht in Kurts und meinem Sinne „politisch“ agieren, aber ihr Glück nicht mehr im hochpreisigem Konsum und einer Premium-Automarke suchen, ein guter Anfang für eine Art neues 68, für eine neue Verbindung von Verweigerung und Aufbegehren.

Wenn Meggie und ich uns an „glückliche“ Tage auf unserem Hof erinnern, fällt uns immer auch ein wahrhaft goldener Sonntag im Oktober 2011 ein: Meggie hatte Hanne und Kurt vom Bahnhof abgeholt, Hanne kam mit Rollator und war schon vom Krebs gezeichnet, aber voller Hoffnung. Auch der Kölner 68er Robert Naumann war aus Stuttgart zu Besuch gekommen und es wurde eine sehr warmherzige Zusammenkunft. Hanne starb im Dezember, Robert an seinem Krebs ein halbes Jahr danach, Kurt 2015.

Aber in der Erinnerung an den sonnigen Nachmittag bleiben sie lebendig. Und für mich bleibt auch dieser Tag eine Bestätigung dafür, wie wenig „hardware“ es braucht, um etwas von dem Glück zu finden, nach dem doch letztlich auch in der konsumistischen Materialschlacht alle suchen: Dafür können Kaffee, Kuchen und echte Freunde völlig ausreichen und obendrein vielleicht noch eine Lightshow am herbstlichen Himmel, Eintritt frei.