Der Lauf meines Lebens
Als ich im Januar 1944 das Licht der Welt erblickte, war diese Welt der Bauernhof meines Opas im kleinen, stockkatholischen Kirchdorf Belmicke an der Grenze zwischen Bergischem und Sauerland. Meine Mama ist mit mir in ihrem Elternhaus niedergekommen, weil diese mit Hof, Gaststätte, Pension, Lebensmittelgeschäft ziemlich wohlhabend waren.
Mein Papa war nicht anwesend, denn er bekämpfte als Oberleutnant der Wehrmacht für „Führer, Volk und Vaterland“ die Sowjetunion. Sein Vater war schon im 1.Weltkrieg von einer Granate zerfetzt worden, weshalb er mit Mutter und zwei Brüdern im Nachbardorf in großer Armut aufgewachsen war.
In der Dorfschule und später als Messdiener wurde ich wie die andern zu einem kleinen fanatischen Katholiken erzogen. Das Weltbild war einfach: Die Guten waren die Katholischen, und zwar einzig und allein sie. Minderwertig, ja verabscheuenswert waren die Evangelischen, unter diesen besonders die Flüchtlinge.
Nach dem Krieg eröffnete mein Papa ein kleines Steuerberaterbüro und startete als Kommunalpolitiker soziale Projekte. Als er merkte, dass in der katholischen Volksschule ein relativ „bildungsferner“ Unterricht stattfand, nahm er mich raus und schickte mich in die evangelische in Neuenothe, denn ich sollte ja aufs Gymnasium. Das war aber ein Skandal und nicht nur der Pastor regte sich auf. Auf diese Weise lernte ich aber neben Lesen und Schreiben schon früh, der Obrigkeit zu mißtrauen: Es stellte sich heraus, dass, abgesehen vom anderen Gottesdienst, die „Lutheraner“ nämlich genauso waren wie wir: Der Anteil von anständigen Menschen und Arschlöchern unter ihnen war ziemlich derselbe.
Dank der “evangelischen“ Nachhilfe schaffte ich die Aufnahmeprüfung für das Wüllenweber- Aufbaugymnasium in Bergneustadt. Die Schüler stammten zum größten Teil aus der kleinstädtischen Mittel- oder Oberklasse. Der größte Fabrikant war langjähriger Vorsitzender der Schulpflegschaft und hatte überhaupt überall das Sagen.
Da ich als Dorfei mit Kleidung und anderen Konsumartikeln nicht punkten konnte, gelang das aber mit einer gewissen Frechheit und Aufsässigkeit, weshalb der autoritäre Teil des Kollegiums mich pisackte, während ich aber andererseits beim Deutschlehrer gut gelitten war. Der damals leicht „ exotisch“ wirkende Kunstlehrer (er kam mit Latschen(!) in die Schule) wurde mein Freund und ich fuhr mit ihm, seiner Frau und ein paar anderen Schülern gemeinsam in Urlaub. Er drehte mit uns mehrere kleine Super 8 Spielfilme und vertonte sie mit einem Uher Tonbandgerät. Sie atmeten eine Art Beatles-Atmosphäre. Die Abende bei ihm und die Urlaubreisen öffneten für mich eine andere, poetischere Welt als die des Dorfs und der Schule.
Nach dem Abitur 1964 wollte ich ein Studium in den Fächern beginnen, in denen ich gut war: Germanistik, Philosophie und Polit. Wissenschaften. Doch da kam ein Einberufungsbefehl der Bundeswehr. Zwar hatte ich verweigert, aber wie so oft die Frist versäumt und saß jetzt in der Falle.
Du gehst nicht, so mein Vater apodiktisch. Dann holen mich die Feldjäger, entgegnete ich. Du gehst studieren beharrte er. Am Tag danach packte er mich ins Auto, fuhr zum Kreiswehrersatzamt, legte dort ein Dokument vor, das ihn als Oberleutnant auswies. Kaum im Büro des Behördenchefs knallte er meinen Einberufungsbefehl auf den Tisch und fing an zu brüllen: Mein Sohn geht studieren. Mein Vater und mein Onkel sind im 1. Weltkrieg gefallen, meine beiden Brüder im zweiten und deshalb ist für unsere Familie Militär tabu, und zwar für die nächsten tausend Jahre!! Komm, Lothar! Knallte die Tür zu und fuhr wortlos mit mir nach Hause. Ein paar Tage später kam ein Brief, dass ich vorläufig studieren könne.
Und so begann ich das Studium an der Kölner Uni, ohne zu wissen, was ich danach eigentlich damit anfangen wollte. Das übliche Ziel war natürlich Lehramt, aber wohl bei dem Gedanken an eine Lehrerexistenz war mit von Anfang an nicht.
Mein 68
In den meisten „Jubiläums“-Veranstaltungen finde ich mein damaliges Lebensgefühl, meine Sehnsucht, Beklemmung, Wut und Abscheu nicht wieder.
Mein Studium (Germanistik, Philosophie und Polit. Wissenschaften) hatte das Ziel Lehramt. Damals war das die garantierte Eintrittskarte in die völlig abgesicherte Existenz eines Staatsbeamten, der sein Leben vorausplanen kann bis hin zu den Urlaubsreisen als gut besoldeter Pensionär.
Nach einigen Semestern „normalen“ Studiums graute mir zunehmend vor einem solchen vorausbestimmten Leben, das ich wie einen Lehrplan nur abzuarbeiten hätte. Als staatstragender Teil dieser autoritären und materialistischen Gesellschaft, so fürchtete ich, würde meine Seele verkümmern, an Mangelernährung leiden und endlich verhungern. Überall ließ sich besichtigen, wie Liebe, Poesie, Schönheit durch den Fleischwolf des „Wirtschaftswunders“ gedreht und plattgewalzt wurden zu knallbunten Werbesprüchen; „Nord-Süd-Fahrten“ erschlugen menschlichen Lebensraum, in den „Chorweilers“ begann die Massenmenschhaltung.
Das empfanden viele innerhalb und außerhalb der Uni. Es bildete sich eine Subkultur unterschiedlichster Formen von Verweigerung: Kriegsdienst-, Karriere-, Konsumverweigerer, Studienabbrecher, Arbeitssaboteure, Kaufhausdiebe, Drogennutzer, Straßenmusiker, Hinterhofdichter, Hippies, Gammler. Mehr und mehr fühlte ich mich dieser Szene zugehörig.
Verbunden hat uns das Grundgefühl, außerhalb dieser Gesellschaft zu stehen; und die Ablehnung des Adenauer-Globke-Abs-Staates, aus dessen blankpolierten Kulissen der tausendjährige Leichengestank von Auschwitz hervortrat; die Abscheu vor den Lügen aufgeblasener, häufig brauner Honoratioren, vor dem „bewusstlosen Konsumismus“ ( Pasolini) des um sich greifenden „ american way of life“. Das war nicht unsere Welt.
Wir fühlten uns denen in den USA nahe, die ebenfalls vom System ausgespuckt wurden, gepeinigt, gedemütigt, ermordet. Sie schickten uns ihre Träume und Anklagen in Form von Musik und Literatur.
Unser Lebensgefühl haben wir 1967 an der Uni in „Polit-Happenings“ zum Ausdruck gebracht, indem ich als eine Art Kunstfigur „Gothe“ für das machtlose Studentenparlament kandidierte. Durch anarchistische Aktionen, Spott und Hohn führten wir an dieser besseren Schülermitverwaltung vor, wie Krawatten tragende zukünftige Parteikarrieristen die Rituale der Scheindemokratie ihrer Papas einübten.
Wir hatten kein klar definiertes politisches Ziel und verfügten nicht über absolute Wahrheiten oder eine „wissenschaftliche Weltanschauung“ wie die kommunistischen Parteien und Zirkel. Antikommunismus lehnten wir ab, aber in der Sowjetunion sahen wir nicht das gelobte Land, auch ihr bürokratisches Personal überzeugte nicht, dort gab es keine Ches, Fidels, Lumumbas.
Aber wir wußten, dass die BRD eine Klassengesellschaft war, beherrscht vom Kapital in unterschiedlichsten Formen; dazu brauchte man nicht die „heiligen Schriften“ des Marximus jahrelang zu studieren, es reichte das kommunistische Manifest und ein wacher Blick auf die Verhältnisse.
Wir sahen auch, dass die Völker in den ehemaligen Kolonien weiterhin brutalster Ausbeutung und Unterdrückung durch das westliche Imperium ausgeliefert waren; dass deshalb Gegengewalt (wie in Vietnam) deren unbedingtes Menschenrecht war, Frantz Fanon hat es uns eindringlich erklärt.
Am Widerstand gegen die Notstands- (und potentiellen Ermächtigungs-) Gesetze zeigte sich, dass es auch einer festen Organisation bedurfte, um die politischen Verhältnisse zu ändern. So trat ich 1968 in den SDS ein und bildete dort mit Rainer Kippe und anderen den antiautoritären Flügel, von dem die bekannten Widerstandsaktionen wie Barrikade, Rektoratsbesetzung oder Amerikahaus-Entglasung ausgingen.
Lehramt war längst keine Perspektive mehr, das Studium daher sinnlos und mehrere Strafverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs (später amnestiert) machten den Bruch mit Uni und „Bourgeosie“ perfekt und es begann eine lebenslange Suche nach einem authentischen Leben in einer „anderen Welt“.