Disput mit einem guten Freund

Betreff:     Re: Franz Alts Ukraine-Appell
Datum:     Fri, 10 Feb 2023 14:57:10 +0100
Von:     Lothar Gothe
An:     richard……@gmx.de

Lieber Richie,

du schreibst schon wieder „DIE“ Ukrainer. Die gibt es nicht. Nicht alle haben sich für Widerstand „entschieden“, z.B. eine beachtliche russisch-sprachliche Minderheit im Donbass  nicht, der  ( wie etwa bei den Basken) eine in Minsk zugesagte Autonomie versagt wurde. Du verfällst dem Denkmuster, dass dem Kriegsverbrecher und Diktator Putin, dem absolut Bösen, die demokratische Ukraine als das absolut Gute gegenüber steht. Das ist pure Westpropaganda, das „Böse“ (Oligarchie) gibt es auf beiden Seiten und ebenfalls Lügenpropaganda.
“ Im Westen nichts Neues“ ist gerade neu verfilmt worden, erinnert dich das tagtägliche sinnlose Sterben in den Schützengräben des „Abnutzungs“-Stellungskriegs nicht auch an Weltkrieg 1? Und der von Regierungen und den Medien entfesselte widerliche Nationalismus, Militarismus, Heroismus auf beiden Seiten ? Und die medialen Inszenierungen der jeweiligen Kriegsherren, deren Kinder wie z.B. der Sohn von Melnyk nicht an die Front müssen, weil sie  als Studenten freigestellt sind ?

Ich habe hier einen alten Familiengrabstein, auf dem der Name meines 1916 im Schützengraben zerfetzten Opas eingraviert ist und dem Drecksspruch, er habe  als „Held fürs Vaterland nicht vergebens gekämpft“.Daneben ein zynisches eisernes Kreuz mit einem „W“ in der Mitte, für Wilhelm, „seinen“Kaiser und  Schreibtischmörder.   Ich glaube nicht, dass er freiwillig seine Frau und die drei kleinen Kinder für den „Kaiser“ verlassen hat, die in bitterer Armut zurückblieben. Das wird auch bei dem Franzosen im Dreckloch gegenüber nicht anders gewesen sein.
Wenn die UNO eine mächtige neutrale Kraft wäre und eingegriffen hätte und die Interessen an den Ressourcen offengelegt und für eine einigermassen gerechte und demokratisch legitimierte Verteilung gesorgt hätte, dann hätte sicher weder das russische noch das ukrainische  “ Kanonenfuttervolk“ für Krieg gestimmt. Das ist nämlich die zweite Front, die  zwischen unten und oben, Kriegsopfern und Kriegsgewinnlern.

Ist es denn nicht völlig ernüchternd, dass die  Ausplünderung der ukrainischen Bevölkerung durch die korrupte Oberschicht hinter den Kulissen der vaterländischen Freiheitskampf- Aufführung gnadenlos weitergeht und sich sogar Regierungsmitglieder an den Nahrungsmitteln der armen Säue an der Front bereichern ? Und dass westliche Firmen vor und hinter den Kulissen weiter Öl-und andere Geschäfte mit dem Teufel Putin machen (dürfen) und damit den furchtbaren Angriffskrieg die ganze Zeit mitfinanzieren und insofern von der russischen Seite aus mit auf die Ukrainer schießen ?
Wie kannst du denn da so sauber zwischen Gut und Böse unterscheiden ? Haben wir werteorientierten demokratischen Wölfe nicht am Ende unsere Reisszähne in dieselbe Beute geschlagen, genauso gierig,  wie der blutrünstige Leitwolf Putin vom anderen Rudel?
Wäre mein Vorschlag des zivilen Widerstands nicht die einzig mögliche Rettung für abertausende russische und ukrainische Opfer des „Kanonenfutters“?
Was haben die überlebenden Traumatisierten und Verkrüppelten denn von einer “ befreiten“verwüsteten  Ukraine ?? Hätten sie als zwangseingemeindeter Teil von Russland nicht die Demokratiebewegung deutlich verstärken können und mithelfen, die Diktatur von Putin& Co zu beenden und dann unter UNO-Regie wirklich frei über den Ukraine- Status abstimmen? Bei einer friedlichen Teilung hätten russische Kapitalisten allerdings so wenig wie die westlichen über die ukrainischen Ressourcen verfügen können.
Selbst wenn nach Jahren Abnutzungskrieg die Russen vom ukrainischen Territorium vertrieben wären, herrschte  dann Frieden ? Oder nicht vielmehr andauernde latente Kriegsgefahr an einer ultra-hochgerüsteten Grenzbefestigung?
Wieviele schwere Waffen hatte denn eigentlich Gandhi zur Verfügung, um die damalige, ebenfalls äußerst brutale Weltmacht Großbritannien in die Knie zu zwingen ? Ich bekomme “ Draußen vor der Tür“ von Borchert nicht aus dem Kopf und diese grauenhaft elende, leere menschliche Hülse, die der Krieg vom überlebenden Landser übrig gelassen hatte. Das hat mich als Schüler erschüttert und ich habe den Krieg hassen gelernt. Haben wir all das total vergessen  ?

Grüsse,
Lothar

Am 05.02.23 um 20:44 schrieb richard……@gmx.de:

Lieber Lothar,

Danke für Deine umfassende Antwort, die ich sehr gut verstehen kann. ABER, Tatsache ist, dass die Ukraine sich nicht für „subversiven Widerstand“ im Hinterland der russischen Besatztruppen entscheiden hat, sondern in gewisser Weise wie die Kurden für einen militanten Widerstand mi der Unterstützung des Westens gegen den russischen Aggressor.

Das ist die reale Ausgangslage. Und auf diese müssen wir auch in Hinblick auf Deine korrekte Analyse als „Putin-Versteher“ eine Antwort finden. Und die kann nicht darin bestehen einfach weiter zu eskalieren mit immer mehr Waffenliegerungen bis hin zum möglichen Nato-Truppeneinsatz mit der möglichen Folge eines atomaren Infernos aber auch nicht in „Appeasement“, d-h- einem Friedensschluss mit Putin um jeden Preis.

Diesem realen Dilemma können und dürfen wir nicht ausweichen. Also brauchen wir einen schnellstmöglichen Waffenstillstand, einer Feuerpause, eines Einfrieren des Krieges, wohl wissend, dass sowohl der Westen aber auch Putin beidseitig nur darin einwilligen, wenn sie glauben ihren jeweiligen Zielen, nämlich der Eingliederung der UKRAINE in ihren jeweiligen Herrschaftsbereich damit näher kommen zu können.

Wir sind uns einig darin, dass es um einen schnellstmöglichen Stopp aller Kampfhandlungen geht, damit des gegenseitige Abschlachten weitgehend verhindert wird, ohne indes die russische Aggression zu billigen.

Deswegen. Lieber Lothar, sind solche Überlegungen, die Du anstellst nicht zielführend. Und dies verstehe ich als „Realpolitik“,  von dem auszugehen, was ist, und dennoch einen wie auch immer gearteten Weg zum Frieden für die geschundene Bevölkerung zu finden.

Und richtig ist und bleibt, dass wir also konkret uns noch mehr abkoppeln müssen von der konzerngesteuerten Globalisierung. Konkret ist es ja so, dass die französische Atomkraftindustrie weitgehen d vom Staat gesteuert nach wie mit der russischen Rostam wegen der Brennstoffe kooperiert. Der Profit zählt über jedes Menschenleben hinweg auf beiden Seiten.

Konkret bedeutet dies , all das was Du an innerlichen Banden zwischen den Herrschenden auf allen Seiten aufzeigst von uns aufgedeckt werden muss und eben deshalb wir uns darauf fokussieren sollten auf das Leiden der Bevölkerung auf allen Seiten, wir die Soldaten auf allen Seiten ermutigen sollten für einen Verständnisfrieden und nicht für einen Siegfrieden einzutreten.  Aber die Agression von Putin darf nicht belohnt werden, genauso wenig wie die Agression von Erdogan gegen die Kurden.

Insofern ist der Appell von Franz Alt m.M.n. nicht bloß ein Appell der ins Leere läuft, sondern versucht darzustellen, dass nicht allein Putin der „böse Bube“ ist.

Aber richtig bleibt, dass wir angesichts der Folgen des menschenverursachten Klimawandel uns solche Kriege um Macht, Vorherschaft usw. überhaupt nicht leisten können. Sie geschehen aber trotzdem.

Soweit meine Entgegnung.

Frage? Bist Du einverstanden, dass ich unseren Dialog neinen Mitsztreiter*inn im Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Frieden zugänglich mache? Wenn ja, dann gib mir bitte Dein OK,

Richie

*Von:* Lothar Gothe <lo……….@westhost.de>
*Gesendet:* Sonntag, 5. Februar 2023 18:44
*An:* Richard <richard…..@gmx.de>
*Betreff:* Franz Alts Ukraine-Appell

Hallo Richie,

jetzt muss ich mir mal zum Ukraine Krieg echt Luft machen:

Der moralische Appell von Franz Alt läuft völlig ins Leere, weil er den riesigen Elefanten im „Kriegs“raum nicht sieht: Die globale Gefahr der nahenden Klimakatastrophe, welche  durch  eine anwachsende Welternährungskrise  das Überleben der Menschheit in Frage stellt, weil sie immer mehr landwirtschaftlich nutzbare Böden zerstört. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich der Angriffskrieg des angeblich wahnsinnigen Putin erklären.

Welche enorme Bedeutung die äußerst fruchtbare Schwarzerde der Ukraine für die Welternährung hat, zeigte sich ja daran, wie der Getreide- und Ölpreis in Höhe schoss, als der Krieg den Export blockierte. Nun ist es aber nicht so, dass die reichen Bodenschätze und die guten Ackerböden DEN Ukrainern gehören und Putin sie jetzt der Bevölkerung  wegnehmen will.

Zum größten Teil sind sie nämlich nach 2014 in den Besitz von ukrainischen Gangster-Oligarchen geraten, welche das Land an ausländische Großagrarier und Finanzinvestoren verpachtet haben( An Ausländer verkaufen geht erst nach EU-Beitritt) Zutiefst korrupten Regierungs- und Verwaltungsstrukturen ist es zu verdanken, dass dieses Ressourcen-reiche Land das ärmste in Europa ist und zu den ärmsten der Welt gehört, der Mindestlohn beträgt ca 75 Cent .Deshalb glaube ich auch, dass die vielen armen Ukrainer  nicht zu den Flüchtlingen gehören, die hier ankommen, sie haben gar kein Geld für die Flucht.

Hier ist immer die Rede von DEN Ukrainern, welche für ihre und unsere Freiheit kämpfen und sich gegen den Angriffskrieg DER Russen verteidigen. Mit kann keiner erzählen, dass der ukrainische Hungerlöhner freudig sein Leben hingibt, weil er unbedingt von einem ukraininischen  Bonzen statt von einem russischen ausgebeutet werden will.Es ist ja nicht seine „Freiheit“ für die er kämpfen muss, sondern die seiner Oberschicht und die von uns westlichen Konsumenten.Das weiß er auch, es sei denn, er ist durch die Propganda der PR-TV-Soap- Regierung verblödet, wie etwa vor 45 unsere Eltern. Dass er diesen  – in unseren Medien als heldenhaft verklärten- mörderischen Kampf ebensowenig  freiwillig führt wie der einfache Russe auf der anderen Seite der Front, zeigt sich schon daran, dass Kriegsdienstverweigerung ( ein Menschenrecht!) mit langjährigem Gefängnis bestraft wird: „Kanonenfutter“ wie eh und je, hier wie da.

Auf beiden Seiten ist es jetzt schon die einfache Bevölkerung, die den Krieg verloren hat, vor allem aber die ukrainische ( der wir doch angeblich zu Hilfe kommen): Ein riesiger Blutzoll, abertausende Tote und Verletzte, zerstörte Städte, kaputte Infrastruktur, Elend in einer vielleicht “ befreiten“ Trümmerwüste ist auf Jahrzehnte vorprogrammiert. Derweil sitzen hierzulande  die vereinigten Zyniker aller Parteien in den bequemen Sesseln der Talkshows,  ganz vorne die Grünen, und kommentieren diesen Todesfuror wie ein internationales Sportereignis: Vergleichen Kenntnisreich die Waffensysteme, analysieren cool die jeweilige Taktik und  überbieten sich in der Forderung nach schweren und immer noch schwereren Waffen bis hin an den Rand eines Weltkriegs.

Währendessen gerät eine Todesgefahr völlig aus dem Blick, die uns selber und ganz sicher unseren Kindern droht: Die Folgen der heran nahenden Klimakatastrophe. Im Ukrainekrieg sterben zwar die anderen, aber wir hier leiden auch unter den Kriegsfolgen, weil steigende Energie- und Lebensmittelpreise den Konsum einschränken, was natürlich auch wieder die Armen besonders trifft. Wie bei Drogensüchtigen hat wegen Putins Gassperre die Angst vor dem Entzug dazu geführt, sämtliche Mauern der Vernunft einzureißen und auf Teufel komm raus die eben noch zu Recht  geächteten allerübelsten Fossilen wie Frackinggas und Braunkohle zu aktivieren. Also schwere und schwerste Waffen gegen das Klima zu richten, damit unser konsumistisches Wohlleben auf keinen Fall geschmälert werden muss. Dabei müssten wir Militärexperten doch wissen, mit welcher Übermacht das zum Feind gemachte Klima zurückschlägt: Sind die verdorrten und brennenden Wälder denn nicht Warnung genug oder die Verwüstungen an der Ahr, welche so gründlich die russische Armee nicht hingekriegt hätte?

Um Putin zu verstehen, müssen wir wohl den Blick zunächst einmal auf uns selber richten: Ist es denn nicht  dieselbe Beschaffungskriminalität, wie Putin sie in der Ukraine an den Tag legt, mit welcher der reiche  Westen sich seit Jahrhunderten Rohstoffe und Arbeitskraft auf dem ganzen Globus aneignet, auch unter Anwendung struktureller und kriegerischer Gewalt? . Ist es nicht dieselbe Hab- und Raffgier, die ihn und uns beherrsch? Ist das denn nicht der Grund dafür, dass viele Länder des Südens dem Westen die Solidariät gegen Putin verweigern? Müssten wir dann nicht einmal erst unserer Gier zumindest Zügel anlegen, damit wir einigermaßen glaubwürdig Putins anprangern können? Und da wir auf dem größten Haufen sitzen, mit Verzichten, Abgeben und Teilen vorangehen ?

Ich wage jetzt mal einen Gedanken, den man in diesem Kriegsbesoffenen  Land öffentlich wohl nicht mehr äußern darf:
Ich stelle mir mal vor: Die Ukraine hätte den russischen Truppen keinerlei militärischen Widerstand geleistet und fortan passiven Widerstand geübt; und wir im Wohl-standseuropa hätten die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland wirklich gekappt, indem wir den Konsum und damit die Warenproduktion, den Energieverbrauch und die Mobilität drastisch auf die Hälfte reduziert hätten: Wir hätten ein paar harte Jahre für die Anpassung gebraucht, die Reichen zum Verzicht und zur Solidarität mit den Armen zwingen müssen,aber wir hätten nicht hungern und frieren und ein freudloses Leben führen müssen . Aber die Klimaziele hätten wir in echt erreicht und die schlimmste Katastrophe für die Kinder verhindert. Ich glaube fest, dass dann auch die Länder von Indien bis Brasilien, die heute Russland aus eigenen üblen Erfahrungen mit dem „Wertebasierten“ Westen nicht verurteilen, sich angeschlossen hätten und Russland, in der Weltgemeinschaft isoliert, er bliebe aus seinen Fossilen sitzen und hötte seinen Raubzug nach ein paar Jahren aufgeben aufgeben müssen.

Bia dahin hätten halt russische statt ukrainische Oligarchen und korrupte Amtsträger die Bodenschätze, das Ackerland und die Arbeiter ausgebeutet, aber die Menschen würden noch leben, unversehrt sein, ihre Häuser ständen noch, Strom und Heizung funktionierten, Miilionen, vor allem Kinder, wären nicht derartig traumatisiert und in all der Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung könnten sie weiter ihre Nischen für ein kleines Glück finden wie zuvor.

Die Aktienwerte der Rüstungsindustrie gehen durch die Decke. Neulich las ich, dass Lindner 80 000 ha brandenburgisches Ackerland verkaufen will, welches aus Treuhand-besitz noch übrig ist, natürlich an Groß“bauern“ wie etwa die Aldi-Brüder . Einen Großteil wollte die Firma „Rhein-Metall“ (!) kaufen , die offenbar Mühe hat, ihre sprudelnden Gewinne gut anzulegen. Diese erzielt sie mit ihren Panzern, welche die ukrainischen Felder verwüsten und damit allerdings den Preis auch für brandenburgisches Ackerland immer weiter in die Höhe treiben. Schließt sich hier nicht ein wahrhaftiger Teufelskreis ?

So, verdammt noch mal, dieses „Putin-Verstehen“ musste jetzt mal sein,

Gruss,

Lothar