Peter Trechow
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Kölner Stadtanzeiger/ Kölnische Rundschau Lokalredaktion Gummersbach
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Berlin, 06.Januar 2021

Leserbrief zum Komplex NS-Aufarbeitung; Oberbergischen Kreis und die Anregungen des Bürgers Lothar Gothe

Sehr geehrter Herr Klemmer,

als gebürtiger Bergneustädter, der seit 1989 in Berlin lebt, fühle ich mich dem Oberbergischen Land nach wie vor verbunden. Entsprechend schaue ich immer mal wieder auf ihren Webseiten vorbei und informiere mich, was in der alten Heimat vor sich geht. Als historisch interessierter Mensch habe ich aufgemerkt, als ich von Lothar Gothes Anregungen zur Aufarbeitung der NS-Geschichte gelesen habe. Ich bin dann auf dessen Webseiten gestoßen und habe dort weitergelesen.

Der Oberbergische Kreis kann – und sollte (!) – sich glücklich schätzen, einen solchen Unruhestifter zu seinen Einwohnern zu zählen. Der große, im Juli 2020 verstorbene US-Bürgerrechter John Lewis hat oft darauf hingewiesen, wie wichtig „good troube“ für das gesellschaftliche Fortkommen ist. Lothar Gothe ist im engsten und im besten Sinne das, was man unter einem Good Troublemaker versteht.

Als ich in den 1980er Jahren zum Wüllenweber Gymnasium Bergneustadt ging, lehrte dort der leider früh verstorbene Heinz-Wilhelm Brandenburger Geschichte. Er hat uns von seinen Recherchen zu Ley-Land. Dr. Robert Ley und der Nationalsozialismus im Oberbergischen berichtet. Vom sehr frühen Erstarken der NSDAP im Oberbergischen Kreis. Von Gestapo-Folterungen in der Tropfsteinhöhle in Wiehl. Und davon, das er auch in den 1980er Jahren noch in mancher Wohnstube auf Portraits des Führers gestoßen ist. Alte Nazis habe auch ich kennengelernt, als ich als Jugendlicher Mitglied im Kaninchen-Züchterverein war. Sie haben sich absolut positiv auf Hitlers Autobahnen, auf Recht und Ordnung und „diese gute Zeit“ bezogen – ohne Scham. Sie waren es gewohnt, so zu reden. Und es war in den 1980er Jahren absolut nichts Ungewöhnliches, von den Türken auf dem Hackenberg als

„Kanacken“ zu sprechen. „Kanackenhügel“ nannten sie den Hackenberg abfällig. Widerlich. Damals wie heute. „Knoblauchfresser“ für Spanier, Griechen und Italiener. Ist mir in den 1970ern ständig begegnet. Und wehe, die „klauenden Zigeuner“ kamen in die Stadt und campierten am Bisterfeld Stadion…

Die Fragen, die Lothar Gothe aufwirft, sind Fragen, auf deren Klärung ihre Redaktion drängen sollte, statt sie zurückzuweisen. Es gibt auch 2021 viele Gründe zur Nachforschung, warum sich die Nazis in Oberberg so früh und nachhaltig etablieren konnten. Warum Nazis nach der Befreiung am 08. Mai so leicht wieder in Ämter kamen. Herr Pomykaj schreibt in seinem offenen Brief an Lothar Gothe über seine Studie: „Das Hauptergebnis war, dass bis in die 1980er Jahre wichtige Funktionen in der Kreispolitik und Kreisverwaltung von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP besetzt waren“. Und noch

viel schlimmer und für mich so noch nie gehört lesen sich seine Zeilen: Die große Mehrheit wollte keine Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen und eine Entfernung von NSDAP-Mitgliedern aus ihren Ämtern. Als KPD und SPD bei den Kommunalwahlen 1946 eine „Entbräunung“ gefordert haben, haben sie krachend verloren. Noch 1947 ergab eine Umfrage in Westdeutschland, dass 55 Prozent der Bevölkerung den Nationalsozialismus als gute Sache ansahen, die nur schlecht gemacht worden sei.

Goldenbogen und andere mussten keine Aufarbeitung verhindern, sondern sie erfüllten damit den Wunsch der Bevölkerungsmehrheit. Kein Wunder, denn mehr als 80 Prozent der Lehrer und Ärzte waren ehemalige Parteimitglieder; die Verwaltungen wären ohne sie zusammengebrochen“.

Diese Generation hat also in zweifacher Hinsicht versagt. Sie hat dem mörderischen NS-System treu gedient, sie hat den Vernichtungskrieg und den Massenmord (ich gehe in Berlin täglich an Dutzenden Häusern vorbei, vor denen Stolpersteine von den abgeholten und ermordeten jüdischen Bewohnern zeugen) mitgetragen – und sie hat sich danach aus ihrer historischen Verantwortung gestohlen. Eine gute Sache, die nur schlecht gemacht worden sei??? War das sagt, findet den Massenmord OK. Hat das Gift der Rassenlehre noch in den Adern. Den harten Kruppstahl und das zähe Leder noch als die Ideale der Männlichkeit im Sinn. Mit der Stunde Null war gar nichts vorbei. Das ideologische Gift war tief eingedrungen. Es hat geprägt, wie diese Generation ihre Kinder erzogen hat. Wie sie Disziplin und Versagen definiert hat. Wie sie selbst und wie wir als die Erzogenen Fremden begegnen. Wie tief in den Köpfen antisemitische Muster noch heute sind.

Aktuell erleben wir wieder so eine verschwörungsideologische, im Kern antisemitische Welle. Eine finstere Macht soll Corona nutzen, um uns mit Impfstoff zu vergiften. Endziel: Die Weltbevölkerung dezimieren. Wer nachfragt, wer denn diese Macht sein soll, die USA, Europa, Asien und Russland in den Coronamaßnahmen hinter den Kulissen eint und die Strippen zieht, der landet bei George Soros. Der ewige Jude. Die Verschwörung.

Es hört nicht auf. Und es hat nie aufgehört – auch weil lästige Fragesteller, die „Good Troublemaker“ abgewimmelt wurden und werden. Wenn Sie nun Gothes Leserbrief zum Artikel „Wenige Antworten auf Gothes Fragen“ nicht drucken, weil er selbst Protagonist in dieser Angelegenheit ist, sollten Sie auch keine Stellungnahmen von Landrat Jochen Hagt mehr dazu drucken. Denn wie dieses Fundstück [https://www.obk.de/cms200/aktuelles/pressemitteilungen/2007/04/artikel/2007-04-20_todestag_dr_goldenbogen.shtml] aus dem Jahr 2007 zeigt, ist auch er kaum als unabhängig im Fall Goldenbogen zu bezeichnen. Auf dessen NS- Verwicklungen und Seilschaften (Klausa, Peiner) hat Herr Gothe ausführlich hingewiesen. Da klingt das Zitat „ein Mann der ersten Stunde“ samt Blumenstrauß am Grab erschreckend unreflektiert.

Natürlich ist es unbequem, sich diesen Fragen und Fakten zu stellen. Aber wenn wir es nicht schaffen, die NS-Strukturen zu benennen und nachvollziehbar zu machen – und uns den teils bis zum heutigen Tag wirksamen Kontinuitäten zu stellen, dann bleiben der nächsten und übernächsten Bewegung von Faschisten und antisemitischen Verschwörungstheoretikern Tür und Tor geöffnet. Es ist geschehen.

Folglich kann es wieder geschehen. Gelesen haben diese Zeilen von Primo Levi viele. Aber wer hat sich ernsthaft die Mühe gemacht, es wirklich zu ergründen? – Ich möchte Sie hiermit ausdrücklich ermuntern und auffordern, der Diskussion um die oberbergische NS-Vergangenheit in ihrem Blatt Raum zu geben und die sperrigen Einwände von „Troublemaker Gothe“ aufzugreifen. Denn genau das ist ein Weg, um der Mahnung Primo Levis gemeinsam und öffentlich auf den Grund zu gehen. Es wird Oberberg gut tun. Denn der einzige Sinn, den wir den monströsen Verbrechen dieser Zeit geben können, ist es, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Es kann wieder geschehen, wenn wir nicht alles daran setzen, aus dieser Zeit zu lernen – und versäumte Lehren nachzuholen.

Mit freundlichen Grüßen Peter Trechow

PS: Dass ich Ihnen am Jahrestag des Sturms auf das US-Kapitol (angeführt von bewaffneten Faschisten wie den Proud Boys, Oath Keepers und Boogaloo Bois/ aufgewiegelt von Antidemokraten, die ein juristisch durch alle Instanzen bis hin zum Supreme Court bestätigtes Wahlergebnis zu Fall bringen wollten) schreibe, ist Zufall. Aber es zeigt sehr aktuell, das Wachsamkeit das Gebot der Stunde ist.