Stellungnahme von Gerhard Pomykaj zu dem offenen Brief an den Redaktionsleiter der OVZ zum Umgang mit altem und neuem Rassismus und Antisemitismus von Lothar Gothe vom 16.04.2021

Bochum, den 30.04.2021

Sehr geehrter Herr Gothe,

in dem obengenannten offenen Brief stellen Sie meine wissenschaftliche Qualifikation und mein wissenschaftliches Ethos massiv in Frage. Sie wissen offensichtlich nicht, dass ich vorrangig Historiker bin und in dieser Funktion primär für die Stadt Gummersbach und mit 12 Wochenstunden für den Oberbergischen Kreis gearbeitet habe. Zuvor war ich jahrelang am Lehrstuhl SWG Köllmann an der Ruhr-Universität-Bochum tätig. Weitere Informationen entnehmen Sie bitte dem Artikel über meine Person in Wikipedia; meine Veröffentlichungsliste finden Sie auf der Website des BGV, Abt. Oberberg.

Ich hatte mich gewundert, dass Sie nie mit mir Kontakt aufgenommen haben. Allerdings war ich davon ausgegangen, dass Sie als historisch Interessierter zumindest meine einschlägigen Arbeiten zur NS-Zeit gelesen haben. Dieser Brief wie auch Ihr Leserbrief in der OVZ vom 23.04.2021 lassen aber das Gegenteil vermuten, denn ansonsten hätten Sie dort Antworten zu einem Teil der hier formulierten Fragen erhalten und hätten den Namen des erwähnten Kinderarztes nennen können; es war Alfred Simons, wie man in der „Dokumentation zur Judenverfolgung in Gummersbach während der Herrschaft des Nationalsozialismus“ aus dem Jahre 1995 nachlesen kann. Grundlegend war auch die Broschüre zur Zwangsarbeit (2003) und die damit verbundene Ausstellung auf Schloss Homburg. Am umfangreichsten und wichtigsten ist meine Darstellung der Zeit von 1918 bis 1948 im Dritten Band der Oberbergischen Geschichte aus dem Jahre 2001. Es ist die bisher einzige Überblicksdarstellung über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die unmittelbare Nachkriegszeit im Oberbergischen. Sie ist entstanden im wissenschaftlichen Diskurs mit den Professoren Klaus Goebel und Jürgen Reulecke, wobei die schwierige Quellenlage die Arbeit nicht gerade erleichterte, denn fast alle Akten aus den Kommunalarchiven wie auch alle Akten der NSDAP wurden im April 1945 verbrannt.

Diese Darstellungen sind durchweg auch gerade wegen ihrer Objektivität – soweit sie denn möglich ist – sehr positiv rezensiert worden. Die mir wichtigste Beurteilung stammt von Jürgen Habermas, einem Zeitzeugen. Er schrieb mir in einem Brief vom 30.11.2006 aus Starnberg:

„Sehr geehrter Herr Pomykaj,

Sie haben mir mit Ihren Büchern eine große Freude gemacht. Insbesondere die Dokumentation der jüdischen Schicksale aus Gummersbach haben mich beeindruckt. Es gereicht der Stadt zur Ehre, dieses dunkle Kapitel aus ihrer Geschichte so kompetent und umfassend darstellen zu lassen. Die Broschüre über die Zwangsarbeit im Oberbergischen hat bei mir persönliche Irritationen ausgelöst, weil ich eigentlich sehr viel genauere Erinnerungen daran haben müsste. Aber man nimmt eben als Kind und Jugendlicher die Umwelt doch sehr selektiv wahr. Auch den Band über die jüngere Geschichte zwischen 1918 und 1948 habe ich mit Vergnügen gelesen.“

Aufgrund der Qualität meiner vielfältigen Veröffentlichungen zur Oberbergischen und Gummersbacher Geschichte bin ich vor Jahren in den „Brauweiler Kreis“, in dem die renommiertesten Landes- und Regionalhistoriker sich zu wissenschaftlichem Austausch treffen, aufgenommen worden. Diese kurzen Anmerkungen müssen zu meiner Qualifikation reichen.

Nun zu anderen Púnkten in Ihrem offenen Brief: Die Studie, mit der ich angeblich 2012 vom Kreis beauftragt wurde, hat es nie gegeben und auch keinen entsprechenden Auftrag. Was ich zugesagt habe, war auf der Grundlage meiner jahrzehntelangen Forschungen ein Vortrag vor dem Hauptausschuss des Kreises und in der Öffentlichkeit zu halten zum Thema: „Der Nationalsozialismus im Oberbergischen Kreis – Kontinuitäten und Diskontinuitäten nach 1945“. Das Hauptergebnis war, dass bis in die 1980er Jahre wichtige Funktionen in der Kreispolitik und Kreisverwaltung von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP besetzt waren. In dem Zusammenhang habe ich im Übrigen auch Heinrich Schild genannt. Meines Wissens waren Sie auch zugegen. Seitdem sind gut vier Jahre vergangen und Sie haben vor diesem offenen Brief mir gegenüber nie Kritik geübt. Eine erweiterte Untersuchung aller Kreistagsmitglieder würde möglicherweise neue Details benennen können; an der Grundaussage dürfte sich nichts ändern. Zudem sind die Kreistagsmitglieder den Vorgaben ihrer Fraktionsvorsitzenden gefolgt.

Die NS-Zeit ist im Vergleich zu den 1980er Jahren in vielen Aspekten aufgearbeitet worden; Sie haben die Veröffentlichungen offensichtlich nur nicht zur Kenntnis genommen. Auch die Organisation der rassistischen Ausstellung durch Otto Kaufmann und Otto Bäcker habe ich bereits vor 20 Jahren i, dritten Band der Oberbergischen Geschichte dargestellt. Sie haben natürlich recht, dass die Forschung noch nicht abgeschlossen ist. „Unser Oberberg ist bunt, nicht braun“ hält zudem die Erinnerungskultur durch ihre vielen Veranstaltungen entscheidend am Leben. Auch wird weiterhin geforscht und veröffentlicht. Aus der letzten Zeit ist besonders der Beitrag von Gerhard Jenders zu den Zwangsarbeiterlagern im Oberbergischen hervorzuheben. Mein Nachfolger Manfred Huppertz hat die Dokumentation zur Judenverfolgung erheblich erweitert und ins Netz gestellt.

Was ich nicht nachvollziehen kann, ist Ihre Fixierung auf Goldenbogen u.a.. Wieso nehmen Sie nicht große Teile der Bevölkerung in den Blickwinkel? Die große Mehrheit wollte keine Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen und eine Entfernung von NSDAP-Mitgliedern aus ihren Ämtern. Als KPD und SPD bei den Kommunalwahlen 1946 eine „Entbräunung“ gefordert haben, haben sie krachend verloren. Noch 1947 ergab eine Umfrage in Westdeutschland, dass 55 Prozent der Bevölkerung den Nationalsozialismus als gute Sache ansahen, die nur schlecht gemacht worden sei. Goldenbogen und andere mussten keine Aufarbeitung verhindern, sondern sie erfüllten damit den Wunsch der Bevölkerungsmehrheit. Kein Wunder, denn mehr als 80 Prozent der Lehrer und Ärzte waren ehemalige Parteimitglieder; die Verwaltungen wären ohne sie zusammengebrochen.

Sie stellen die Frage: „Was haben all die Nazis getan, wo sind sie geblieben?“ Das beziehen Sie besonders auf die Zeit nach 1945. Hier könnten Sie doch einen eigenen Beitrag leisten. In Ihrer Biografie „Der Lauf meines Lebens“ schreiben Sie verharmlosend über Ihren Vater zur Zeit Ihrer Geburt 1944: „er bekämpfte als Oberleutnant der Wehrmacht ‚Führer, Volk und Vaterland‘ die Sowjetunion“. In Wirklichkeit nahm er in nicht untergeordneter Position an einem rassistisch motivierten Eroberungskrieg teil, in dem die Regeln der Genfer Konvention nicht galten und der 20 Millionen Sowjetbürger das Leben kostete. Ohne den Ostfeldzug der Wehrmacht hätte auch die Shoah nicht so stattfinden können. Da Ihr Vater sich nicht mit der Rolle eines einfachen Soldaten zufrieden gab, sondern die Verantwortung als Offizier suchte, darf davon ausgegangen werden, dass er zumindest zeitweise die Kriegsziele teilte. Ob er dabei NSDAP-Mitglied war, spielt in diesem Zusammenhang eine nur sehr untergeordnete Rolle.

Bei Ihrem kritischen Anspruch werden Sie ihn bestimmt gefragt haben, was er als Oberleutnant gemacht hat, wie er mit dem Kommissarbefehl umgegangen ist … Es wäre interessant zu erfahren, ob er sich mit seinem Handeln auseinandergesetzt hat, welche Schlussfolgerungen er gezogen hat. Offensichtlich hatte er ja in den 1960er Jahren eine Abneigung gegen die Bundeswehr, der Ihnen den Militärdienst wie auch die damals unangenehme Kriegsdienstverweigerung mit anschließendem Ersatzdienst ersparte. Ihre Erinnerungen an das Wirken Ihres Vaters könnten Sie ja im Kreisarchiv deponieren. Solche Quellen können einen Beitrag zur Verarbeitung des NS nach 1945 leisten, und zwar in der Bevölkerung.

Hiermit möchte ich es belassen. Ich gehe davon aus, dass Sie meine Stellungnahme auch in Ihrem Blog veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen

Gerhard Pomykaj