Offener Brief an den Redaktionsleiter der OVZ zum Umgang mit altem und neuem Rassismus und Antisemitismus
Hallo Herr Klemmer,
es gibt mehrere Anlässe dafür, mich in dieser Form an Sie zu wenden.
Der eine ist der Skandal um die jahrzehntelang verheimlichte oder vertuschte NS-Belastung zweier hoch geehrter Oberberger, des „Heimatforschers“ Kaufmann und des früheren Landrats und Bürgermeisters Dr. Schild. Dieser hat schlagartig die Dringlichkeit deutlich gemacht, die bislang unterlassene echte Aufarbeitung der personellen und ideologischen NS- Kontinuität in Oberberg vor und nach 45 endlich nachzuholen. Der andere Anlass ist Ihre diesbezügliche Berichterstattung: Ausgerechnet während der Internationalen Wochen gegen Rassismus verharmlost und relativiert Ihre Zeitung den nationalsozialistischen Rassismus in seiner mörderischen Ausprägung, wie er sich im Fall Kaufmann zeigt, in einer zumindest für Nazigegner und Antifaschisten unerträglichen Weise. Der dritte ist ein nicht veröffentlichter kritischer Leserbrief dazu.
Ich nehme mal an, dass der lobhudelnde „Jubiläumsartikel“ zu Kaufmann Ihnen und Ihrer Redaktion heute peinlich ist. Denn eine Woche später mussten Sie ja berichten, dass der Gummersbacher Hilfsschullehrer sich vor 45 als strammer Nazi und glühender Hitler-Verehrer hervorgetan hat. Diese Erkenntnis beruhte aber nicht etwa auf Ihren eigenen Recherchen, sondern auf Dokumenten, welche der Leiter des Lindlarer LVR-Museums, Herr Kamp, Ihnen präsentiert hat.
Bis heute hat Ihre Zeitung ihre Leser nicht darüber informiert, welche konkreten Vorwürfe dem Hilfsschullehrer Kaufmann als überzeugtem Vertreter der NS-Rassenlehre gemacht werden müssen, die zwischen Herrenmen-schen, Untermenschen und Lebensunwerten unterscheidet. Die Hilfsschule hatte im NS eine „rassenpflegerische Aufgabe, indem sie hilft, die schädlichen Elemente zu orten und der Sterilisierung zuzuführen“ (Ernst Klee. Euthanasie im NS Staat – Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“). Nach der Machtergreifung, so Klee, wird die Hilfsschule „bereinigt“: Die angeblich „schwerschwachsinnigen“ Kinder „werden ausgeschult und in Anstalten untergebracht, wo sie später die „Euthanasie“ ereilt.“
Kaufmann, der sich in der Nazi-Eugenik schulen ließ, beteiligte sich mit Eifer daran. Er habe „die Schwächsten ausgesondert“ notiert er 1936. Er lässt sich sogar vom Schulrat die Erlaubnis geben, in den Volksschulen nach „Hilfsschulbedürftigen“ Kindern zu fahnden, welche die Lehrer (sicher aus gutem Grund) „widerrechtlich“ nicht überwiesen hätten. Der Lehrer Kaufmann bezeichnete seine Schüler als „minderwertig“, fünf davon führte er im Beisein der Mütter einem Bonner Psychiater vor, der sein Gutachten über die „erbliche Belastung“ auf einem „gesonderten Bogen“ notierte. In Bonn waren die späteren „Euthanasiegutachter“ (also Schreibtischmörder) Prof. Polisch und Prof. Panse tätig. Es kann nach alledem kein Zweifel daran bestehen, dass Kaufmann als überzeugter Nazirassist die „rassepflegerischen Maßnahmen des Staates“ befürwortet und sich daran beteiligt hat. Es stellt sich auch die Frage, wie er es angestellt hat, mit dieser Belastung die Entnazifizierung hinzukriegen..
Zu einer Aufarbeitung des oberbergischen Nationalsozialismus und seiner Nachkriegskontinuität gehört also unbedingt auch die Forschung zu den hiesigen Krankenmorden und Zwangssterilisierungen; anhand der Akten des Einwohnermeldeamts und des damaligen Gummersbacher Erbgesundheitsgerichts sollten dabei auch die Schicksale von Kaufmanns Hilfsschülern aufgeklärt werden.
Die mit der Zwangssterilisierung verbundene Stigmatisierung wirkte auch nach 45 fort. Für eine mir bekannte Frau aus dem Othetal zeitigte sie noch Ende der 50er schlimme „ Spätfolgen“: Ihr und ihrem Ehemann wurde, obwohl sie in Eigenheim und gesicherten sozialen Verhältnissen lebten, die Adoption von Heimkindern vom Jugendamt verweigert. Der einzig erkennbare Grund: die Naziakte zur Sterilisation wegen einer Schwäche beim Rechnen und Schreiben, die jedoch nicht auf Erbanlagen zurückzuführen war, sondern auf unregelmäßigen Schulbesuch wegen der bitteren Armut ihrer Familie. Welch ein Segen wäre aber die Adoption z.B. für Jungen aus dem nahe gelegenen Josefsheim in Eckenhagen gewesen, die dort immer noch als „Minderwertige“ behandelt wurden, gedemütigt, misshandelt und vergewaltigt, ohne dass dasselbe Jugendamt dort eingeschritten wäre! Soviel zu diesem Kapitel „Nachkriegs-Nazi-Kontinuität“ in Oberberg und dem Fortwirken des NS- Menschen-bilds.
Nichts davon, Herr Klemmer, war in Ihrer Zeitung zu lesen. Stattdessen erschien ein langer Artikel, in dem eine ehemalige Schülerin berichtet, dass sie Kaufmann 1940 als liebevollen, den Schülern zugewandten Lehrer kennengelernt habe: „Er hat sich um jedes Kind bemüht“. Sie habe ihn 1940 als Klassenlehrer der Volksschule, kennenlernt und kann nur Gutes berichten. Es folgten ebenso apologetische Leserbriefe mit den üblichen Rein-waschungen: Er habe keine „Ausweichmöglichkeit“gehabt, daher sei es traurig, wie man solche Menschen in die rechte Ecke stelle“! Sie gipfelten in unsäglich zynischen Witzchen aus dem rechten „Schlussstrich“- Milieu wie der anzüglichen Frage, ob man heute überhaupt noch „ Führerschein“ oder „ Reichshof“ sagen dürfe.
Es ist bekannt, dass auch Gewaltherrscher und Naziverbrecher fürsorgliche Familienväter und zärtliche Liebhaber sein konnten – wie z.B. Hans Frank, der „ Schlächter von Polen“. So kann ich natürlich die guten Erfahrungen von Kaufmanns späteren Schülern ebenso wenig in Zweifel ziehen wie seine späteren Verdienste als „Heimatforscher“. Aber das relativiert und entschuldigt NICHTS von seinem (besonders radikalen) Einsatz – ideologisch und praktisch – für die NS-Rassenlehre, die ja die „Aussonderung“ und Vernichtung von behinderten Menschen als „ Lebensunwerte“, „Ballastexistenzen“ und „unnütze Esser“ unbedingt verlangte. 200 000 Krankenmorde waren die Folge dieses NS-Rassismus und Millionen „vernichtete“ Juden, Roma und andere „Minderwertige“.
Wer die Beteiligung daran verharmlost oder diese gleich ganz verschweigt, weil die Täter nach 45 als gute Nachbarn oder fromme Christenmenschen hervorgetreten sind, macht sich vor der Geschichte schuldig und trägt dazu bei, den Rassismus und Antisemitismus unter der Decke weiter am Leben zu halten.
Es kommt im Gegenteil darauf an, alles auf den Tisch zu legen, damit in den Biografien von Kaufmann (und anderen Nazitätern) erforscht werden kann, wie ein offenbar zur Empathie fähiger, gebildeter und christlicher Mitmensch zum Vollstrecker solch mörderischen Rassenwahns mutieren konnte. Nur so können wir und vor allem die heutigen Schüler die Anfänge kennen lernen, denen wir uns längst schon wieder erwehren müssen.
Ihre Berichterstattung wird dieser Pflicht zur rückhaltlosen Aufklärung nicht gerecht. Das zeigt sich auch daran, dass Sie meinen Leserbrief, der dies Versäumnis kritisch anprangert, nicht veröffentlichen. Er wäre der bislang einzige Beitrag in Ihrer Zeitung gewesen, der sich auf die historischen Fakten bezieht, wenn auch in scharfer Form. Aber eben mit diesen unangenehmen Fakten wollen Sie sich offensichtlich nicht auseinandersetzen, genauso wenig wie die oberbergische Politik und große Teile der Zivilgesellschaft. Immer noch nicht!
Die schnelle Umbenennung der Straßennamen durch den Nümbrechter Gemeinderat ist sicher die richtige und unvermeidliche Reaktion. Dass es ohne jede Diskussion geschah, könnte allerdings darauf hin deuten, dass zumindest einflussreiche Kreise ein weiteres Nachforschen in Oberbergs brauner Vergangenheit unterbinden wollen. Jedenfalls dann, wenn man es dabei bewenden lässt und der „Kaufmann/Schild-Skandal“ nicht als Anlass für weitere Nachforschungen in Nümbrechts und Oberbergs tiefbraunem Untergrund genommen wird. Es stellen sich hier doch wichtige Fragen hinsichtlich einer offensichtlich 70 Jahre lang unterlassenen „Vergangenheitsbewältigung“ z. B. die naheliegende, ob es noch andere „braune Leichen“ in Nümbrechts und Oberbergs „Kellern“ gibt. Werden diese Fragen in den Parlamenten nicht gestellt, drängt sich zwangsläufig der Eindruck auf, dass die Glut schnell ausgetreten werden soll, damit nicht daraus womöglich ein Flächenbrand wird: Denn bei Kaufmann/Schild handelt es sich ganz sicher nur um die aufgetauchte Spitze eines Eisbergs, dessen Großteil immer noch im Dunklen liegt. Und im Interesse Vieler sicherlich liegen bleiben soll.
Eine ähnliche vernebelnde Funktion erfüllte die 2012 vom Kreis in Auftrag gegebene historische Studie zur NS-Belastung von Kreisverwaltung und Kreistag vor und nach 45, die als Versuch einer ehrlichen und umfassenden Aufarbeitung kläglich gescheitert ist.
Mit dieser heiklen Aufgabe wurde nicht ein unabhängiger, fachkundiger Historiker beauftragt, wie es der Objek-tivität wegen erforderlich und üblich ist, sondern der beim Kreis abhängig beschäftigte Archivar. Entsprechend dünn und lückenhaft fiel das Ergebnis aus. Der Kreistag und seine Mitglieder wurden völlig ausgespart, obwohl dort bis in die 60ger hochkarätige Nationalsozialisten fast parteiübergreifend das Sagen hatten. Allein diese offensichtlich vorsätzliche Unterlassung entwertet diese Studie als Versuch einer ehrlichen Aufarbeitung und schützt bis heute belastete NS Täter. An oberster Stelle den OKD und Altnazi Goldenbogen („nicht der aller-schlimmste Nazi“), der mehr als 30 Jahre lang das Oberbergische autoritär regierte. Als Mitbegründer des Landschaftsverbands Rheinland ( LVR) und mächtiger Vorsitzender des Kulturausschusses hielt er bis Ende der 70er gemeinsam mit dessen Gründungsdirektor und NS-Kameraden Klausa die Hand über andere Nazis in Führungspositionen, auch solche, die wie Klausa selbst an der Judenverfolgung, dem Holocaust und den „Euthanasie“-Krankenmorden beteiligt waren.
Beim Landschaftsverband bewirkte diese personelle und ideologische Nazikontinuität, dass bis in die 80er in den Psychiatrien und Erziehungsheimen menschenunwürdige Zustände herrschten und Patienten und Heimkinder rechtlos gestellt und Misshandlungen und Erniedrigungen ausgesetzt waren.
Es gibt dafür weitere Beispiele. Sie sind nur erklärlich, weil in den Denk- und Persönlichkeitsstrukturen sehr vieler Mitmenschen immer noch Führerprinzip, Obrigkeitsstaat und Untertanengeist wirksam sind. Ebenso wie ein von Luther bis zu Hitler in der Bevölkerung tief eingeschliffener Antisemitismus und Ryssismus . Der ist 1945 nicht vom Winde verweht worden, sondern lebt seitdem unter der Decke des Verschweigens weiter. Wie weit er bis in die sog. Mitte der Gesellschaft reicht, wurde in Thüringen deutlich, als CDU und FDP Abgeordnete keiner-lei Berührungsängste mit dem AfD-Faschisten Höcke zeigten. Und vielleicht drückt sich unser verborgener Rassismus ja auch in der eiskalten Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit aus, mit der wir Wohlstandsbürger mittlerweile das schreiende Elend in „unseren“ Flüchtlingslagern achselzuckend hinnehmen.
Der Nümbrechter Robert Ley, der Reichsleiter der NSDAP und als „Reichstrunkenbold“ bekannt, gehörte bei den Nürnberger Prozessen zu den 24 Hauptkriegsverbrechern und war unter denen neben Julius Streicher der schlimmste Antisemit und wüsteste Hetzer gegen die Juden. Er hat sich in der Zelle erhängt, aber seine riesige, teils fanatische Gefolgschaft auch und gerade in den evangelischen Kirchengemeinden hat sich 45 ja nicht in Luft aufgelöst. Was haben all diese Nazis getan, wo sind sie geblieben?
Robert Ley wurde aber ebenso wie Otto Kaufmann nicht als Nazi geboren. Deshalb müssen wir herausfinden, wie er und andere Täter zu Antisemiten und Rassisten geworden sind, welche Rolle dabei Elternhäuser, Pfarrer und Lehrer gespielt haben. Der Rassismus wird ja vielleicht schon in die Seelen von Kleinkindern eingepflanzt, wenn sie aus Gesprächen von Erwachsenen mitbekommen, dass Begriffe wie Juden,“ Zigeuner“ „Neger“ oder Behinderte ständig mit negativem, verächtlichem Unterton verbunden sind. Wenn dann aber noch Autoritäts-personen wie Pfarrer die „Theorie“ ( z.B. Luthers Hetzschriften) dazu liefern oder der Nümbrechter Volksschul-lehrer seine Schüler dazu anleitet, jüdische Gräber zu schänden, dann wird die Grundlage dafür gelegt, dass latent vorhandener Antisemitismus in seine mörderische Form übergeht. Erst so konnten aus den unschuldigen kleinen Leys oder Kaufmanns emotional verkrüppelte kalte Vollstrecker der NS-Rassenlehre werden. Diese Wurzeln des Rassenwahns sind immer noch lebendig und dürfen nicht länger verschwiegen sondern müssen endlich offen-gelegt werden, um ihn wirksam bekämpfen zu können.
Solange aber nicht alle Institutionen und Organisationen ihre Verstrickungen in den NS und dessen Verbrechen offen legen und ihre Schuld bekennen, geraten die Gedenkveranstaltungen zu Inhalts leeren, oberflächlichen Ritualen, zu Alibi-Veranstaltungen, auch dann, wenn sie als „Bündnis gegen Rechts“ auftreten. Von der unverzichtbaren offenen und ehrlichen Aufarbeitung sind wir im Oberbergischen, wie durch Kaufmann/Schild jetzt wieder erschreckend deutlich wird, immer noch weit entfernt. Sehr weit!
Einer der Gründe dafür, Herr Klemmer, liegt darin, dass die Lokalpresse ihre Aufgabe in dieser Hinsicht nicht erfüllt und anscheinend lieber nicht (genau) hinsieht, wenn Ärger von mächtiger Seite droht.
Dieses Versäumnis kann sich bitter rächen. Denn es ist ja nicht ausgeschlossen, dass wir vielleicht bald durch Pandemieschäden und Klimawandelfolgen in eine ähnlich brisante politische Situation geraten wie Anfang der 1930er Jahre, als der Staat sozialer Not nicht mehr Herr wurde und den Nazis zur Beute fiel. Die neuen Faschisten, Rassisten und Antisemiten stehen doch schon zur Übernahme bereit und hinter ihnen auch wieder Kapitalkräftige Profiteure.
Ich werde deshalb den Fall Kaufmann/Schild erneut zum Anlass nehmen, beim Kreistag eine (diesmal ehrliche und vollständige) wissenschaftliche Aufarbeitung des NS in Oberberg vor und nach 45 anzuregen und dafür Unterstützer suchen. Und nochmals vorschlagen, das NS-Dokumentationszentrum damit zu beauftragen.
Ich hoffe, dass Sie und Ihre Zeitung diese Anregung unterstützen und sich selbst mit eigenen Recherchen an der Aufklärung beteiligen
Wenn Sie nicht selbst die unterlassene Berichterstattung über Kaufmanns Beteiligung am NS Rassismus nachholen, bestehe ich darauf, meinen Leserbrief als nötiges Korrektiv zu den unverantwortlichen apologetischen Entgleisungen zu veröffentlichen. Auch wenn er in bestimmten rechten Kreisen Wut und Empörung auslösen wird, obwohl (oder gerade weil) ja alle Angaben jedem Faktencheck standhalten.
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Friedrich von Weizsäcker:
Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird für die Gegenwart blind