Abschied von Heino Lonnemann

Es tut immer weh, einen Freund zu verlieren. Besonders aber dann, wenn er auch ein Kampfgefährte war, ein (Schicksals)Genosse, ein Gleichgesinnter, was diese Welt betrifft. Einer, der zeitlebens auch davon träumte, dass eine andere Welt möglich werden muss.

Ich kannte Heino aus unserer gemeinsamen Zeit im SSK eher flüchtig, von Versammlungen halt und gemeinsamen Aktionen. 2010 änderte sich das.

Der Landschaftsverband Rheinland ließ mich vor seinem Gesundheitsausschuss einen Vortrag halten, nachdem ich die Feier zur Verleihung des „Rheinlandtalers“ an Kurt Holl insofern gestört hatte, dass ich ein Flugblatt verteilte mit der alten SSK-Forderung, endlich die totgeschwiegene braune LVR -Vergangenheit mit ihrer Nazipsychiatrie offenzulegen und aufzuarbeiten. Neben einigen anderen ehemaligen SSK-Leuten nahm auch Heino daran teil. Er hatte mir ein Foto einer Skulptur seines Bildhauerfreundes aus dem gemeinsamen Kunststudium in Braunschweig , Denis Stuart Rose, zur Verfügung gestellt. Titel: „Mausoleum für Lebende“. Es zeigt einen Menschen im Schlafanzug, der verzweifelt versucht, durch ein Metallgitter auszubrechen. Ich forderte vom LVR, die Skulptur zu kaufen und aufzustellen: Als Mahnmal für die Verbrechen und Menschenrechts-verletzungen in seinen Anstalten, von denen der SSK so viele aufgedeckt hatte.

Es geschah zunächst das Gegenteil: Unser Protest hatte sich seit den 70ern gegen den Haupt-verantwortlichen, die zentrale Figur des LVR gerichtet, den Gründungsdirektor Udo Klausa, der bis 1975 autokratisch regierte. Obwohl wegen seiner Nazivergangenheit schwer belastet, wurde er posthum noch Ende 2010 pompös mit einer devoten Ausstellung geehrt. Für Heino, mich und andere war das eine unverschämte Provokation.

2012 erschien das Buch der englischen Historikerin Mary Fulbrook „ A small town near Auschwitz“, was sich mit Klausas Rolle als NS Landrat in Bedzin und Zuarbeiter des Holocaust beschäftigte. Als der LVR ankündigte, die Euthanasieausstellung nach Köln zu holen, beschlossen wir eine Protestaktion gegen diese Heuchelei zu organisieren. Das ahnte die LVR Führung und suchte das Gespräch mit uns. Heino, Kurt Holl und ich bekamen von der Direktorin die Zusage, dass der LVR nunmehr seine mörderischen Naziwurzeln offenlegen werde, was in der Folge durch Reden und Forschungsprojekte auch nach und nach geschah, wenn auch zögerlich, widerwillig und unvollständig.

Heino hat große Verdienste daran. 2018 ist er auf eigene Faust nach London gefahren, hat Mary Fulbrook aufgesucht und mit ihr eine Veranstaltung in der Feuerwache zu NS und Klausa durchgeführt. Die von ihm inspirierte Skulptur seines Freundes Denis steht heute im ehemaligen Psychiatrieknast Haus 5 in Düren, welches nun Sozialpsychiater zu einem Dokumentationszentrum zur Geschichte der Psychatrie ausbauen. Die radikalen Widerstandsaktionen des SSK werden dort heute historisch gewürdigt, weil sie erst den politischen Druck zu Reformen erzeugt hätten. 2018 und 2019 führten Proteste dazu, dass sich die Uni Bonn endlich von Klausa als Ehrenbürger distanzierte, die Uni Düsseldorf von ihm als Ehrendoktor. In der Person Klausa zeigte sich die Kontinuität zum Nazireich besonders intensiv und widerwärtig: War er doch nicht nur einer der vielen Naziführer, welche die BRD „aufbauten“, sondern erneut verantwortlich für unsägliche Übergriffe und Rechtsverletzungen gegen wehrlose, teils behinderte Menschen, die neben Juden und Roma als dritte Gruppe der „Lebensunwerten“ dem rassistischen Massenmord zum Opfer gefallen war.

Es ging für Heino, mich und andere nicht um abstrakte Politik, um akademische Auseinandersetzung mit dem NS. Die Naziverbrechen waren bei uns allen, die wir mit den Protesten nicht aufhören konnten, mehr oder weniger Teil unserer Familiengeschichte, sie schwebten als Schatten über unserer Kindheit und Jugend in den 50ern und 60ern, kaum greifbar, weil unsere Väter ( und Mütter) vor ihrer Schuld als Täter oder Mitläufer geistig das Weite suchten und uns wortlos damit allein ließen. Mein Vater, der im Alkoholismus endende Wehrmachtsoffizier, Kurt Holls SS-Papa, der dem „Kurti“ eine Geburtstagskarte schrieb an dem Tag, als seine Einheit ein Massaker in der Urkaine anrichtete und Heino, der unter den Veteranentreffen der alten Kameraden seines Vater aus Rommels Elitetruppe gelitten hat.

So gesehen sind wir Geschwister, die von den Eltern in einem Haus voller schrecklicher Familien-geheimnisse allein gelassen wurden, während diese sich mehr und mehr in den hemmungslosen Konsumrausch des „Wirtschaftswunders“stürzten und ihre Gier nach Geld, Autos, Fun zunehmend in krankhafte Sucht ausartete.

Es gab noch eine weitere Gemeinsamkeit, die mich mit Heino verbunden hat. Dass nämlich die Herrschaft des weltzerstörerische Konsumkapitalismus nicht nur wegen seiner extremen Ungleichheit und der brutalen Ausbeutung, nicht nur wegen der Zerstörung der Lebensgrundlagen und des Klimas gestürzt werden muss, sondern auch aus ästhetischen Gründen: Welche Häßlich-keiten hat er in die Welt gebracht, sei es in der Massenmenschhaltung der Wohnsilos, den von Ramsch überquellenden Einkaufstempeln oder etwa den öden Parkplatzlandschaften voll mit schwarzen Hochglanzpanzern!

Mit seinen Skulpturen arbeitete Heino gegen dieser Art Abscheulichkeiten an und brachte wahre Schönheit auch Kindern nahe. Dasselbe versuche ich in der Vielfalt meines Bauerngartens. Es war mir deshalb eine große Freude, als eines Tages Heino kam und mir eine Pagode aus ange-schwemmten Rhein-Hölzern (und einen philosophischen Text dazu) schenkte und aufbaute. Sie steht in meinem Garten und beider Schönheit kann hungernden Seelen Nahrung geben. Als er das Tor aufbaute, kam der Nachbar, ein Kunstsammler, und fragte nach dem Preis. Heino: „Lothar muss nicht dafür bezahlen.“ Auf die Frage „warum“ kam Heinos Antwort: „ Weil der SSK mich vor der Psychiatrie gerettet hat“.

Das trifft vermutlich auch auf mich zu.

Nun habe ich auf tragische Weise eine Art jüngeren Bruder verloren und eine gewisse Einsamkeit wird wieder etwas größer.