„Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart“ (R.v. Weizsäcker)
Anmerkungen zum LVR Forschungsprojekt
Gestörte Kindheiten
Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen in psychiatrichen Einrichtungen des Landschaftsverbands Rheinland (1945 bis 1975)
Es ist sicher ein Verdienst der Studie,die menschenverachtenden Lebensbedingungen und die brutalen, teils sadistischen Behandlungsmethoden an Kindern und Jugendlichen in den LVR-Einrichtungen bis in die 70er ans Licht der Öffentlichkeit gebracht zu haben. Und es war längst überfällig, dass sich die Direktorin Lubek für dieses „düstere Kapitel“ bei den Betroffenen im Namen des LVR entschuldigt hat .
Erneut bleibt aber die Frage offen, warum die unglaubliche „medizinische Gewalt“, welche das Forschungsprojekt aufdeckt, noch 3o Jahre nach dem Dritten Reich unter staatlicher Aufsicht ausgeübt werden konnte. Ein Zusammenhang mit dem rassistischen Menschenbild des Nationalsozialismus wird zwar nicht geleugnet, aber es bleibt diesbezüglich bei ein paar allgemeinen Bemerkungen:
„In den psychiatrischen Anstalten wurden zahlreiche Ärzte weiter beschäftigt, die schon im Nationalsozialismus praktiziert hatten und nicht wenige von ihnen waren an der Vorbereitung und Durchführung der Krankenmordaktionen beteiligt gewesen.“
Dann wird noch ein „prägnantes Beispiel“ aufgeführt, nämlich Dr. Hans Aloys Schmitz, der von 1935 bis 1964 an der Bonner Klinik als leitender Arzt tätig war. Schmitz hat sich als T 4 Gutachter betätigt, bei „ der Kindereuthanasie eine verhängnisvolle Rolle gespielt“ und mindestens 160 Kinder aus der Bonner Klinik zum Töten freigegeben.
Damit ist in der Studie die „Vergangenheitsbewältigung“ im Wesentlichen abgeschlossen. Dass ein Naziverbrecher wie Schmitz und zahlreiche Naziärzte weiter beschäftigt wurden, ist schlimm genug. Solche Einzelfälle, seien sie auch zahlreich, können aber nicht erklären, warum jahrzehntelang Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung waren, ohne dass Vorgesetzte, übergeordnete Behörden oder die Staatsanwalt-schaft eingeschritten wäre, obwohl sie doch keineswegs heimlich geschahen, sondern Teil des „normalen“ Klinikalltags waren.
An zwei Beispielen lässt sich zeigen, dass nicht einzelne „braune“ Schafe für die Verhältnisse in den Einrichtungen des LVR (oder unter seiner Aufsicht stehenden) verantwortlich sein können, sondern dass auch der LVR als Institution seine Schutzbefohlenen als Menschen minderen Werts angesehen und behandelt hat.
Das erste Beispiel ist der beschämende Tatbestand, dass an unzähligen Kindern im Bonner LKH bis in die 70er sog. „Gehirndurchleuchtungen“ (Pneumanzephalografie) vorgenommen wurden. Bei diesem äußerst schmerzhaften Eingriff wird dem Gehirn Flüssigkeit entnommen und Luft hineingepumpt. Neben den teils lang andauernden Qualen riskiert man bei dem massiven Eingriff Gesundheitsschäden „ bis hin zu tödlichen Verläufen“. Ein möglicher diagnostischer Nutzen kann dazu in keinem angemessenen Verhältnis stehen, eine Rechtfertigung wäre nur dann gegeben, wenn es dabei um einen lebensrettenden Eingriff ginge, es ist aber eher das Gegenteil der Fall. Deshalb handelt es sich aus rechtsstaatlicher Sicht um eine permanent begangene schwere Körperverletzung. Zahlreiche Kinder mussten diese Tortur sogar noch in den 70ern erleiden, als längst schon die schmerzfreie Computertomografie zur Verfügung stand. Viele Kinder wurden auch mit Elektroschocks malträtiert, manche sogar mit beiden (Sieg)-“Heil-Behandlungen“.
Zu den erforderlichen Einwilligungen der Eltern: Mir ist ein Fall von 1970 bekannt, da wurde in Bonn die Einwilligung für Elektroschocks an einer jungen Frau dadurch erpresst, dass der Arzt der Mutter versicherte, ohne diese werde ihre Tochter sterben.
Die „Gehirndurchleuchtung“ hatte im NS Hochkonjunktur und diente dem rassistischen Wahn, an den Gehirnformen Herren- und Untermenschen unterscheiden zu können oder z.B. Kriminelle daran zu identifizieren. Ein ähnliches Menschenbild muss also im LVR noch lebendig gewesen sein, das zeigt ja auch der offensichtliche Mangel an Empathie bei allen Beteiligten dem „Krankengut“ gegenüber.
Bis Ende der 60er waren zudem erbbiologisch begründete Diagnosen und „eugenische Denktraditionen“ die Regel: so wurden als „schwachsinnig“ oder „charakterlich abartig“ diagnostizierte Kinder nur verwahrt, mit Psychodrogen vollgepumpt und ruhiggestellt. Deren Krankheit wurde demnach immer noch als Gendefekt betrachtet, folglich war Heilung nicht möglich und Förderung somit unsinnig..
Das zweite Beispiel für „Nazikontinuität“ sind die Vorgänge um den Medikamentenversuch an 40 Kindern der evangelischen Düsselthaler Anstalten – Graf von der Recke-Stiftung. Der diesbezügliche Antrag des Heimleiters beim LVR – unterstützt vom LVR Psychiater Baucke – stieß zunächst bei Landesverwaltungsdirektorin Beuermann auf Bedenken, die wohl weniger auf Mitgefühl mit den Opfern beruhten, sondern vielmehr auf möglichem Widerstand von Angehörigen und weil solche Massnahmen „gegen Missdeutungen von Angehörigen abgeschirmt werden müssen“.
Doch es schaltete sich der Direktor des LKH Grafenberg und Lehrstuhlinhaber an der Uni Düsseldorf, Panse ein und erreichte in einem „längeren Gespäch“ mit Landesrat Jans die Genehmigung. Die Kinder wurden den schwerwiegenden „Neben“wirkungen und Schädigungen des Präparats ausgesetzt, wobei die Höchstdosis nicht wie üblich durch langsame Steigerung der Dosis ermittelt wurde, sondern umgekehrt: Man begann mit starker Überdosierung.
Dr. Martha Beurmann war eine glühende Nationalsozialistin.Von 1939 bis 45 setzte sie im Landesjugendamt die NS Rassenlehre durch, u.a. als „Sachbearbeiterin“ für die Einweisung in die Jugendkonzentrationslager und sie war gemeinsam mit ihrem Vorgesetzten Hecker verantwortlich für die im September 44 erfolgten Deportationen von rheinischen Anstaltsinsassen in die Jugend-KZ. Beide wurden 45 verhaftet, fanden aber nach der Entlassung Jobs bei der Inneren Mission (wie so viele Nazis) und durften bei der Gründung des LVR die alten Posten wieder einnehmen.
Friedrich Panse, der letztlich den abscheulichen Menschenversuch an Kindern durchsetzte, war ab 37 Dozent für „Rassehygiene“ und ab 1940 als T4-Gutachter ein NS Schreibtischmörder an behinderten Menschen. Traumatisierte Frontsoldaten, sog „Kriegsneurotiker,“ mißhandelte er mit hoch dosiertem galvanischen Strom. Die Stimmung unter den T4-Kollegen beschrieb er als „eine berauschende Gehobenheit“. Er wurde vom LG Düsseldorf aber 1950 freigesprochen und später vom LVR als Leiter des LKH Grafenberg und Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Uni Düsseldorf eingestellt. Diese Position konnte er 1966 nutzen, seinem obersten Chef beim LVR, Klausa, als Quasi-Doktorvater zum Ehrendoktor in Medizin zu verhelfen.
Udo Klausa, Landesdirektor bis 1975, war für die Zustände in Heimen und Psychiatrien der Hauptverantwortliche, zumal er den LVR sehr autokratisch regierte. Er wird in der Studie auch erwähnt, jedoch ohne den geringsten Hinweis auf seine Nazivergangenheit in der SA, als NS-Landrat nahe bei Auschwitz und als Verfasser einer rassistischen Schrift, in welcher er forderte, Behinderte als „Entartete auszusondern“.
Während wie bei Beuermann und Panse auch Klausas Nazibelastung verschwiegen wird, tritt er hier als Wohltäter für Behinderte in Erscheinung (S. 118), weil er den Verein “Lebenshilfe“ unterstützte, der sich seit Mitte der 60er für die Förderung geistig Behinderter anstelle der bloßen Verwahrung einsetzte. Klausas Ehefrau Alexandra hat die NRW-Abteilung dieses Vereins mitgegründet; das Engagement des Ehepaars rührte daher, dass der jüngste Sohn auf Grund einer frühkindlichen Hirnentzündung „verhaltensauffällig“ war.
Dieses Engagement rechtfertigt aber nicht, in einer historischen Studie seine Nazibelastung zu verschweigen. Schon gar nicht, wenn es wie in diesem Fall um unmenschliche Behandlung von Kindern in ihm unterstellten Einrichtungen geht, welche deutliche Anklänge an Nazimethoden aufweisen.
Dass noch 1965 ein solch folterähnlicher Mißbrauch von schutzbefohlenen Kindern als medizinische Versuchskaninchen in staatlichen Einrichtungen überhaupt möglich war, schreit doch nach einer Erklärung. Da die hierfür verantwortlichen Entscheider allesamt im NS in hervorgehobenen Positionen an der „Aussonderung“ und Ermordung der „Entarteten“ beteiligt waren, liegt doch die Vermutung nahe, dass eben immer noch ihre früheren Weltbilder als geistiger Hintergrund Regie geführt haben.
Dass die Studie diese Zusammenhänge nicht weiter verfolgt, sondern z.T sogar verschweigt, halte ich angesichts des anwachsenden Rechtsradikalismus für ein schwerwiegendes Versäumnis. Wie sollen denn junge Menschen über die mörderische Folgen des NS-Rassismus aufgeklärt werden, wenn im Dunkeln bleibt, dass dessen schreckliche Folgen bis in die Gegenwart reichen?
Dürfen Historiker dem LVR eigentlich immer noch nicht die Peinlichkeit zumuten, die darin besteht, dass er seine NS-belasteten Führungskräfte bis vor wenigen Jahren nicht nur beschäftigt und geschützt hat, sondern auch über die Maßen geehrt? Wie 2010 Klausa posthum zu seinem hundertsten Geburtstag mit der devoten Ausstellung „Dirigent eines großen Orchesters“ (Er ist immer noch Ehrenbürger der Uni Bonn und Ehrendoktor der Uni Düsseldorf!)
Oder 1973 Panse in der Todesanzeige von LVR und Uni Düsseldorf: „Ein Leben der Arbeit im Dienst leidender Mitmenschen… ist vollendet.“
Vielleicht ist die Aufdeckung solch konkreter personeller und ideologischer NS-Kontinuitäten bei staatlichen Institutionen wie dem LVR aber auch aus einem anderen Grund unerwünscht: Wirft sie doch ein Schlaglicht darauf, dass die bundesrepulikanische Demokratie von Beginn an dadurch geistig verseucht wurde, dass sich die Nazieliten nach kurzem Abtauchen auf breiter Front in den Führungsetagen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wieder festsetzen konnten.
Mit gefährlichen Folgen für Demokratie und Rechtsstaat, wie sich heute immer deutlicher zeigt.
Erleben wir denn etwa nicht das Zurückdrängen der sozialpsychiatrischen Denkschulen und Einrichtungen zugunsten einer Pharma-zentrierten, mit der man kostengünstiger einer steigenden Zahl angeblich oder tatsächlich psychisch Kranker Herr werden kann? Weniger mit dem Ziel „Heilung“, sondern eher mit dem von Ruhigstellung: In akuter Situation eine oder zwei Wochen stationär zur Einstellung auf das passende Präparat, und ab dann Depotspritze und Begleitmedikation beim niedergelassenen Psychiater oder beim Hausarzt.
Jeder vierte zwischen 18 und 28 leide inzwischen an der einen oder anderen Form psychischer Erkrankung, wurde kürzlich gemeldet. Als Folge der Digitalisierung erwartet man den Wegfall sehr vieler Jobs, eine erhebliche Ausweitung der krank machenden prekären Lebensverhältnisse wäre damit verbunden.
Eine solche Form von Chemo-Psychiatrie könnte bei dieser politischen Herausforderung hilfreich sein, indem sie Millionen betroffene Mitmenschen ruhig und in Schach hält. Der Fall Gustl Mollath hat ja exemplarisch vorgeführt, dass die (geschlossene) Psychiatrie immer noch ein totalitäres System ist, dass leicht politisch missbraucht werden kann.
Dazu fällt mir ein, dass in den 70ern ein Psychiater (ich glaube er hieß Leibfried o.ä.) eine neue „Geisteskrankheit“ entdeckt hatte, die er „politische Querulanz“ nannte. Diese lag dann vor, wenn jemand „mit übertriebenen Mitteln gegen vermeintliches oder wirkliches Unrecht“ vorgeht. Wenn der Amtspsychiater definieren darf, was „übertrieben“ ist, dann kann er demnach auch jeden einlochen, der z. B. gegen eine Diktatur aufbegehrt. Schöne Aussichten!
Deshalb müssen alle Demokraten höchst alarmiert zur Kenntnis nehmen, dass Bayern ja bereits ein Gesetz in der Mache hat, welches die polizeiliche „Erfassung“ aller psychisch Kranken und Auffälligen möglich macht. Gleichzeitig sollen per Gesetz die Polizeibefugnisse so weitgehend ausgeweitet werden, dass eine Art Vorbeugeinhaftierung möglich wird, im Dritten Reich als „Schutzhaft“ bekannt und gefürchtet.
Die lückenlose Erfassung war damals die Voraussetzung und die Grundlage für die Verfolgung und letztlich für die Vernichtung kranker, „lebensunwerter“ Mitmenschen.
Insofern ist es unverzeihlich, dass die Hintergründe der erforschten, teils grausamen Lebensverhältnisse der Kinder in LVR-Einrichtungen nicht im Hinblick auf den NS weiter untersucht, sondern dass offensichtliche Kontinuitäten verschwiegen wurden; obwohl diese doch heute wieder im sich rundum ausbreitenden Rechtsradikalismus und dem Rechtsruck des gesamten Parteienspektrums eine erschreckende Wirksamkeit entfalten. Wer hätte denn vor kurzen noch für möglich gehalten, dass im Bundestag über die zynische Äußerung eines Abgeordneten diskutiert werden muss, welche den verheerenden Weltkrieg der Nazis, den Holocaust und die Krankenmorde als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte unsäglich bagatellisiert?