Oberbergs Kreisdechant Christoph Bersch hatte mir auf einen meiner unveröffentlichten Leserbriefe, hier zum Artikel „Zeichen setzen gegen den Antisemitismus“, geantwortet. Der Mailwechsel entwickelte sich überaus interessant.
——– Original-Nachricht ——–
Betreff: Die Gedanken des Alt 68er…
Datum: Wed, 29 Nov 2017 20:23:12 +0000
Von: <christoph.bersch@erzbistum-koeln.de>
An: <logo@westhost.de>
Sehr geehrter Herr Gothe,
seit Jahren schon begleiten und erstaunen mich ihre veröffentlichten – und manchmal auch die nicht veröffentlichten – Leserbriefe. So unfehlbar waren Päpste nicht einmal im 19.Jahrhundert, wie Sie „historische Wahrheit“ für sich beanspruchen…
Wenn Sie nach einem Satz mit „wäre vermutlich“ und „hätten sich wohl kaum“ von „historischer Wahrheit“, sprechen, dann ist das schon ziemlich steil: sogar steiler als die Eiger-Nordwand.
Lassen Sie mich fünf Gedanken formulieren:
1) Ich habe in diesem Jahr eine Fahrt mit Superintendent Knabe und 50 Christen unserer beiden Konfessionen zu den Wirkungsstätten Martin Luthers gemacht und mehrere ökumenische Gottesdienste mitfeiern dürfen. Wir haben dabei an Worte und Entscheidungen Martin Luthers erinnert, ohne ihn zu verklären. Uns allen ist bewusst, dass er Kind seiner Zeit gewesen ist: mit seinen Ängsten, mit der Wucht seiner Sprache, mit der er sich positiv einen Namen gemacht hat, aber auch der Versuchung erlegen ist, sie gegen Juden (und übrigens auch gegen den Papst und seine Anhänger) einzusetzen – mit seiner Leidenschaft für Gott und zugleich mit seinen (vor allem aus heutiger Sicht) Verblendungen. Gemäß dem Wort des Apostels Paulus: „Prüfet alles, das Gute behaltet“, ist eine klare Kritik angesagt. Kritik kommt von „krinein“ = unterscheiden. Und diese Unterscheidung von sehr viel Segensreichem, das wir Luther verdanken und gerne festhalten – seine ins Deutsche übersetzte Heilige Schrift, seine Hymnen und Lieder… – und dem, wo er negativ über Menschen anderer Überzeugungen und Glaubensausrichtungen herzieht, ist entscheidend.
2) Luther ist in der Geschichte – wie viele andere auch – vereinnahmt und verfälscht worden. Er, dem es um die Rechtfertigung des Sünders durch die Gnade Gottes ging, musste zur Rechtfertigung von Nationalismus, Staatskirchentum, Priesterehe, der Diskriminierung von Juden und Katholiken usw. herhalten. Daraus folgt aber keine „historische Wahrheit“, sondern vielmehr die Sorgfalt und das gewissenhafte Studium der Originalquellen als Ganzes, die eine sachgestützte Annäherung an die „historische Wahrheit“ beinhalten.
3) Ähnliches können wir doch auch von der Zeit vor knapp 50 Jahren sagen: Für die einen war es der Ausbruch aus dem Mief der 50er und 60er-Jahre, der Ausbruch aus Unmündigkeit und Verkrustungen, die Befreiung von falschen Konventionen und einer „Kopf-in-den-Sand-Mentalität“; für die anderen war es der Katalysator für eine moralische Katastrophe mit ethischen Dammbrüchen, politischen Verblendungen (Mao, Fidel Castro…) und der Legitimierung von Gewalt unter fadenscheinigen Vorwänden. Was ist da „historische Wahrheit“? Für Ihre Generation oder auch auf der Basis Ihres persönlichen Lebensweges etwas ganz Anderes als für meine (jüngere) Generation bzw. für meinen Lebensweg, wo mir z.B. das Geschwafel von „Startbahn West – Nein Danke“-Lehrern ebenso auf den Senkel ging wie die verbal großkotzigen Alt-68er a la Gerhard Schröder, die damals das Maul aufrissen und heute bei Gazprom Millionen verdienen (die unzähligen heutigen SUV-Fahrer und Kreuzfahrschiff-Nutzer dieser Generation seien da nur am Rande erwähnt).
4) Mir ist es auch ein Anliegen, dass Sie sich mit Ihren Urteilen über die „halbherzigen Schuldeingeständnisse“ der Kirchen bescheiden. Natürlich haben Christen durch die gesamte Geschichte hindurch schwere Schuld auf sich geladen – wie im übrigen auch alle Nichtchristen! Mose als Mörder, David als Ehebrecher, Petrus als Ohr-Abschläger, Paulus als Christenverfolger… – bereits in der Bibel selbst wird dabei kein Blatt vor den Mund genommen. Christen sind ja auch nicht die moralischen Superhelden, sondern die, die um die absolute Notwendigkeit der Vergebung durch Gott wissen – und darum, dass wir bei uns selbst anfangen müssen! Denn wenn ich mit zwei Fingern auf „die anderen“ zeige, zeigen drei Finger auf mich selbst!
5) Es geht nicht um „lückenhaftes Gedenken“, sondern um ein klares Bekenntnis zu Frieden und Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und dem Einsatz für die Menschenrechte in unserer Gegenwart. Wir brauchen nichts zu verschweigen, wo wir als Deutsche, wo wir von seiten unserer Kirchen, wo wir durch die Geschichte hindurch Unrecht gefördert, Gewalt gepredigt und Menschenrechte mit Füßen getreten haben. Aber wichtiger ist es, dass wir heute positiv für die Werte einstehen, mit denen wir die dunklen Seiten der Vergangenheit hinter uns lassen können.
Ich lade Sie ein, Herr Gothe, am Samstag zum Jahresempfang der Katholiken Oberbergs in die Halle 32 (Steinmüllergelände) nach Gummersbach zu kommen und ab 9.30 Uhr zum Thema „Werte“ zu hören, zu diskutieren und Ihre Meinung einzubringen. Keine Sorge: Katholiken beißen nicht…
Mit freundlichen Grüßen
Pastor Christoph Bersch, Kreisdechant
– Mitglied im Beirat der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit –
Meine Antworten zu dieser Mail:
——– Original-Nachricht ——–
Betreff: Katholiken-Empfang
Datum: Sun, 03 Dec 2017 20:08:51 +0100
Von: Lothar Gothe <logo@westhost.de>
An: christoph.bersch@erzbistum-koeln.de
Sehr geehrter Herr Bersch,
nachfolgend versuche ich, Ihren ausführlichen „Hirtenbrief“ (bzw. Hirtenmail) zu beantworten. Zuvor aber einige Anmerkungen zum oberbergischen „Katholikentag“, zu dem Sie mich eingeladen hatten. Der bin ich gern gefolgt, weil ich mich in die Vorstellung hineinfantasiert hatte, dass sich die Kirche in einem Erneuerungsprozess befinde, sich öffne, diskutiere und auch andere Meinungen gelten lasse: Also vielleicht eine andere, bessere sei als die, aus der ich vor langer Zeit ausgetreten bin.
Natürlich war diese Hoffnung genährt durch den Argentinier, der anscheinend versehentlich zum Papst gewählt wurde. Mich beeindruckt dessen radikale Verurteilung der neoliberalen kapitalistischen
Wirtschaft, welche in den armen Weltregionen „tötet“ und Menschen zu Müll und Abfall macht, während wir hier im „Fetischismus des Geldes“ und im „ungezügelten Konsumismus“ eine „neue und erbarmungslose Form der Anbetung des goldenen Kalbes“ gefunden haben. Seine Schrift „evangelii gaudium“ ist ein Weckruf, ein Fanal.
Was ich vorfand, ließ meine infantilen Träumereien schnell platzen: Alles wie gehabt. Eine Zusammenkunft durchweg älterer Mitbürger, die im „Frontalunterricht“ von „Schriftgelehrten“ und Honoratioren belehrt wurden. Es gab keine Diskussion, schon gar nicht über die christlichen und demokratischen „Grundwerte“ wie Menschenwürde, globale Gerechtigkeit, Schutz der Schöpfung, die wir Übersatten allesamt laut Franziskus durch unsere Lebensweise mit Füßen treten; Bei den 11 Gesprächsrunden waren das ebenfalls keine Themen. Stattdessen das Übliche: von Regionalen Produkten über Caritas-Pflege bis zu Verrohung
der Jugend. Statt Diskussion mit Rede und Gegenrede fragte eine RTL-Moderatorin auf dem Podium nur Statements ab.
Als am Schluss mein Freund das Wort ergriff darauf hin wies, daß Sie mich doch eingeladen hätten, um „zu diskutieren und meine Meinung zu äußern“, blockten Sie ab. Meinen Vorschlag, mir 3 Minuten zu geben, in
denen ich ausschließlich Worte von Papst Franziskus zu den hier ignorierten existentiellen Menschheitsproblemen verlesen werde, lehnten Sie ab. Auch bei seinen katholischen Wohlstands schafen ist der Oberhirte also ein Rufer in der Wüste. Ihr Verhalten bestätigt aber eindrucksvoll Franziskus´ Analyse:
„Um einen Lebensstil vertreten zu können, der die anderen ausschließt, oder um sich für dieses egoistische Ideal begeistern zu können, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt.
Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu empfinden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, wir weinen nicht mehr angesichts des Dramas der anderen noch sind wir interessiert, uns um sie zu kümmern, als sei das alles eine uns fern liegende Verantwortung, die uns nichts angeht. Die Kultur
des Wohlstands betäubt uns.“
Und derart moralisch sediert kann sich dann auch der Christ an der obzönen weihnachtlichen Materialschlacht beteiligen, die gleich nebenan im Forum tobte, oder sich auf den Weihnachtmärkten bei Gühwein und Bratwurst mit kitschigem Plunder aus aller Welt eindecken, um auf solch perverse Art den Geburtstag des revolutionären Juden Jesus zu begehen.
Tief enttäuscht fuhr ich nach Hause, voller Scham, dass ich so blöd war, für einen Moment an die Möglichkeit einer lebendigen Erneuerung der Sancta Ecclesia zu glauben. Armer Franziskus!
UND:
——– Original-Nachricht ——–
Betreff: Historische Wahrheiten
Datum: Tue, 05 Dec 2017 21:40:00 +0100
Von: Lothar Gothe <logo@westhost.de>
An: christoph.bersch@erzbistum-koeln.de
Sehr geehrter Herr Bersch,
nun zu Ihrer Mail, „meiner“ Unfehlbarkeit und zu „meinen“ historischen Wahrheiten:
Im Unterschied zu Ihrer Kirche behaupte ich zumindest nicht, unfehlbar zu sein. Ich nehme auch keine historische Wahrheit „für mich in Anspruch“, sondern kenne durchaus meine diesbezüglichen Grenzen als kleiner Ökobauer und Sozialarbeiter. Aber ich kann (vielleicht dank Luther) lesen und schreiben und mir somit einen Überblick über die Forschungsergebnisse der Wissenschaft verschaffen. Darauf beziehe ich mich und ich habe deshalb auch ausdrücklich auf das Buch des renommierten Historikers Ernst Klee hingewiesen. Falls Sie der Meinung sind, dass z.B. Klee historische Unwahrheiten behauptet, steht Ihnen frei, diese unter Angabe der Quellen an konkreten Punkten zu korrigieren.
Also lieber Herr Bersch: “ Steil “ ist weniger meine Äußerung, sondern wohl eher Ihre Polemik.
Zu Ihren Gedanken:
Vermutlich unbewußt bestätigen Sie genau meinen Vorwurf, daß Luthers mörderischer Antisemitismus verharmlost oder verschwiegen wird: Nach theologischer Belehrung über Kritik, „krinein= unterscheiden“ stellen Sie Luthers sattsam bekannten positiven Leistungen als negative Seite gegenüber, dass er „negativ über Menschen anderer Überzeugungen und Glaubensrichtungen herzieht“. Die Redensart „Über einen herziehen“ bezeichnet die Verbreitung von verleumderischem Klatsch und Tratsch. Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ enthält aber einen eindeutigen Aufruf zum Mord an Juden, zur Brandstiftung bei Synagogen , Zerstörung Jüdischer Schulen und Häuser, Plünderung jüdischen Besitzes. Alle diese Verbrechen wurden 1938 unter ausdrücklicher Berufung auf Luthers Hetzschrift von SA, SS und unzähligen “ Freiwilligen“ verübt. Dass für das Progrom mit Absicht Luthers Geburtstag am 10.11. gewählt wurde, darf man anscheinend nicht erwähnen, es wird völlig totgeschwiegen.
Würde heute jemand diesen Aufruf ernsthaft wiederholen, er würde wohl kaum mit einem Bußgeld wegen übler Nachrede davon kommen, sondern wegen Volksverhetzung und Aufruf zum Völkermord im Knast sitzen. Um Ihre Äußerung als historisch verfälschende Reinwaschung beurteilen zu können, reicht es also aus, Luthers unmißverständlichen Text zu lesen.
Mit solcher Art Verharmlosung schlagen Sie in dieselbe Kerbe wie der Nümbrechter Bürgermeister und Ihre Christlich Jüdische Gesellschaft: Ersterer verbreitete vor Schülern die historische Unwahrheit, dass
nämlich“die Nazis“ die Juden umgebracht hätten, „nur weil sie einen anderen Glauben hatten.“ Auch er hätte doch wissen müssen, dass der Holocaust nicht aus religiösen Motiven geschah, sondern aus rassistischen, sonst wären ja nicht katholische, evangelische und atheistische Juden auch vernichtet worden. Auf diese Weise wird von der barbarischen Einzigartigkeit der industriell durchgeführten “ Endlösung der Judenfrage“ abgelenkt; und davon, dass der rassistische Antisemitismus schon bei Luther angelegt ist, z. B. wenn er die Juden als „leibhaftige Teufel“ oder „durstige Bluthunde“ bezeichnet und ihnen „verdorbenes Blut“ (modern: schlechte Gene) attestiert.
Ich muss auch erneut darauf hinweisen. dass ausgerechnet Ihre Christlich jüdische Gesellschaft sich jahrelang erlaubte, auf ihrer Homepage eine geradezu schamlose Reinwaschung sogar von Naziverbrechern betreiben: Die „Mitläufer und Mittäter“ seien „gutwillig und ehrenwert“ gewesen. Welch eine Verhöhnung der Opfer! In zahlreichen deutschen Orten zeigten sich am 10.11.38 diese Nazis so „gutwillig und ehrenwert“ wie die Täter und Bejubler bei den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Mölln. Erst nach Protesten wurde diese geradezu ungeheuerliche Behauptung gelöscht. Heute findet sich dort ein zweifelhaftes Zitat von August Dresbach: Er gäbe nicht den „ungeschulten“, sondern nur den „politisch geschulten“ Nazis Schuld. Welchen Schulabschluss, Herr Bersch, muss man denn haben, um erkennen zu können, daß Mord und Totschlag, Brandstiftung und Plünderung, etc. Unrecht sind?
Vermutlich ist Ihnen und den andern Beschönigern gar nicht bewußt, welche aktuelle Sprengkraft solche apologetische Befassung mit den nationalsozialistischen Verbrechen in sich trägt, können sich doch die
heutigen Rechtsradikalen, Rassisten und Antisemiten ebenso darauf berufen, trotz ihrer Hetze und ihrer Gewalttaten „ehrenwert und gutwillig“ zu sein.
Luthers Judenhass und seine Vernichtungsaufrufe sind derart eindeutig und massiv, dass daran gar nichts „verfälscht“ werden kann und er muss deshalb auch nicht für die „Diskriminierung der Juden „herhalten“, wie Sie schreiben. Noch mehr „diskriminieren“ als zum Totschlag aufrufen geht ja wohl nicht.
Sie verlangen, ich solle mich mit meinen Urteilen über die „halbherzigen Schuldeingeständnisse“ der Kirchen bescheiden. Was dann aber folgt, ist genau ein solches halbherziges und sehr lückenhaftes Schuldeingeständnis, welches sich auf persönliche Verfehlungen von Mose, David, Petrus und Paulus beschränkt. Kein Wort zu Kreuzzügen, „Kolonialimus-Untaten“, der „heiligen Inquisition“, dem christlichen Anteil am Naziterror.
Auch kein Wort zu hochaktueller Schuld: Den tausendfachen Verbrechen an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen in katholischen Einrichtungen. Einen großen Teil meines Lebens habe ich damit verbracht, zusammen mit vielen anderen empathiefähigen Mitmenschen in der Sozialistischen Selbsthilfe Köln die alleingelassenene Opfer von der Domplatte zu holen, Ihnen im Sinne der Bergpredigt Obdach zu geben und für ihre Rechte zu kämpfen. Als wir auch die Kirche angriffen, wurden wir in Ihrer Kirchenzeitung als „roter Star“ beschimpft, den man “ stechen müsse“. Man beachte die interessante Wortwahl !
Hier vor Ihrer Tür mussten ebenfalls Kinder leiden. Auch im Eckenhagener Josefshaus wurden sie gedemütigt, körperlich mißhandelt, vergewaltigt („sexuell mißbraucht“) und mit folterähnlichen,
sadistischen Methoden bestraft; so wurde z.B. Bettnässern abends die Vorhaut vorgezogen und zugebunden mit der Folge von entsetzlichen Qualen in der Nacht. In einem Gummersbacher Heim, so berichtet ein
früherer Zögling, wurde er von einer Nonne wiederholt zu sexuellen Handlungen gezwungen. An den psychischen Folgen leidet er heute noch. Den Opfern, die ihr Martyrium nachweisen können, bietet das
milliardenschwere Erzbistum Köln 5000 Euro als Wiedergutmachung an, ein Drittel des Kaufpreises einer bischöflichen Badewanne in Limburg! Wie ordnen Sie eigentlich ein solches Verhalten im katholischen Wertekanon ein?
Und jetzt belehren Sie mich, es gehe um ein „klares Bekenntnis zu Frieden und Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und den Einsatz für die Menschenrechte in unserer Gegenwart“. Auf Ihrer Veranstaltung zu „Werten“ und “ Wertewandel“ fiel aber kein einziges Wort zu der brutalen Gewalt gegen Flüchtende, die in KZartigen
Lagern in Lesbos ausgeübt wird, um weitere Hungerleider abzuschrecken und von den Grenzen unserer Wohlstandszone fern zu halten. Oder denen in Lybien, in welchen von uns bezahlte Warlords ein grausames Exempel an Geflüchteten statuieren, die von ihren Gangsterbanden auf dem Mittelmeer eingefangen wurden. Alles „in our name“, lieber Herr Dechant.
Ebenfalls kein einziges Wort zu dem „Werteverfall“, der sich an den dramatischen Folgen der Klimaerwärmung offenbart, einer noch nie dagewesenen Zerstörungsorgie an unseren Lebensgrundlagen, an der „Schöpfung.“Mit furchtbaren Folgen schon heute für Millionen Unschuldiger in Ländern des Südens.
Das alles wurde verschwiegen, stattdessen ging es um Verrohung unserer Jugend und um den schädlichen Einfluss von Handies auf unsere Kinder. Das Schicksal der kongolesischen Kinder, die als Arbeitssklaven unter schrecklichen Umständen Coltan und Lithium für unsere Elektronik aus den Bergwerksstollen kratzen müssen, war hingegen keiner Erwähnung wert. Dabei kann man doch in der „einen Welt“ das eine nicht vom anderen trennen.
Was ihre scharfe Kritik an den 68ern betrifft, muss ich (leider) einräumen, dass sie teilweise berechtigt ist. Tatsächlich geben „großkotzige Alt 68er“ wie Schröder, Fischer oder Kretschmann ein widerliches Bild von rücksichtsloser Raffgier und egomanischem Konsumismus ab und sie treten die damaligen Ideale mit Füßen. „SUV-Fahrer“ und „Kreuzfahrtschiff-Nutzer“ verraten gleichermaßen ihre Grundwerte, seien es Sozialisten oder Christen. Und ich muss wohl auch einräumen, dass es bei den 68ern zu „ethischen Dammbrüchen“ und „politischen Verblendungen“ gekommen ist. Allerdings ist die Kirche auf dem Gebiet den 68ern noch weit voraus, siehe oben. Beiden Gruppen wäre es aber vermutlich gleich lieb, wenn die Spaßbremse
Franziskus endlich das Maul hält und nicht länger allen auf den Wecker geht mit seinen antikapitalistischen Reden und moralischen Appellen. Ihnen anscheinend ja auch, wie wir am Samstag gesehen haben.
Vermutlich bestätige ich mit diesen lästerlichen Ausführungen, dass es klug war, mir am Samstag entgegen Ihrer Zusage nicht das Wort zu erteilen.
Mit freundlichem Gruss, Lothar Gothe
Ich hatte diesen Mailwechsel ursprünglich nur an einige Freunde, darunter auch mehrere Pfarrer, weitergeleitet, um ihre Meinung dazu zu erfahren. Das große Interesse an der Debatte bewog mich dazu, den gesamten Mailwechsel zu veröffentlichen, und so habe ich Herrn Dechant Bersch über mein Vorhaben infomiert:
——– Original-Nachricht ——–
Betreff: Unser „Mailwechsel“
Datum: Sun, 17 Dec 2017 16:42:50 +0100
Von: Lothar Gothe <logo@westhost.de>
An: christoph.bersch@erzbistum-koeln.de
Sehr geehrter Herr Bersch,
ich habe mir erlaubt, unseren Mailwechsel an einige Freunde weiter zu leiten, darunter auch ein paar Pfarrer. Die (pro und contra) Reaktionen zeigen, dass diese (heftige ) Debatte auf überraschend großes Interesse stößt. Deshalb beabsichtige ich, den „Mailwechsel“ auf meiner Homepage weiteren Mitmenschen zugänglich zu machen, will Sie aber vorab informieren.
Gerade die aktuellen antisemitischen und rassistischen Vorkommnisse bestätigen die Notwendigkeit, die tieferen Ursachen des alten und neuen Antisemitismus und Rechtsradikalismus zu analysieren und in der Öffentlichkeit zu diskutieren, gerade auch in der Schärfe, die wir beide an den Tag gelegt haben.
Mit freundlichen Gruß, Lothar Gothe
Herr Dechant Bersch war – das ist verständlich – nicht begeistert:
——– Original-Nachricht ——–
Betreff: AW: Unser „Mailwechsel“
Datum: Mon, 18 Dec 2017 08:01:03 +0000
Von: <christoph.bersch@erzbistum-koeln.de>
An: <logo@westhost.de>
Sehr geehrter Herr Gothe,
eine private e-mail ohne Rücksprache an andere Leute zu senden, hat nicht gerade Stil.
Aber wenn es Ihr Aufmerksamkeits- und Geltungsbedürfnis befriedigt, dann soll es wohl so sein. Das stört nicht meinen adventlichen Frieden.
Übrigens: die beste Medizin gegen Antisemitismus ist ein tiefer gelebter Glaube an Jesus Christus und eine gesunde tiefe Verehrung der Muttergottes!
Denn beide entstammen dem Volk der Juden!
Außerdem: wer an Gott als Vater der gesamten Menschheitsfamilie glaubt, kann weder gegen Israel noch Palästina, weder gegen Amerikaner noch gegen Russen sein. Selbst die geschundene nordkoreanische Bevölkerung verdient Ihr und mein Gebet!
Meine – bis jetzt, 28.12.2017 – letzte Nachricht an Herrn Bersch:
——– Original-Nachricht ——–
Betreff: „Mailwechsel“
Datum: Sat, 23 Dec 2017 17:06:58 +0100
Von: Lothar Gothe <logo@westhost.de>
An: christoph.bersch@erzbistum-koeln.de
Sehr geehrter Herr Bersch,
nachdem ich über Ihre Mail ein paar Tage nachgedacht habe, antworte ich wie folgt:
Sie haben Recht damit, dass es „nicht gerade Stil hat“, eine private Mail an andere weiter zu leiten. Und den Vorhalt, ich würde damit mein Geltungsbedürfnis befriedigen, kann ich auch nicht mal so eben wegwischen.
Aber Sie vergessen die Vorgeschichte: Sie haben meinen Leserbrief zum „Progromtag“ heftig kritisiert, was in Ordnung ist. Mich gleichzeitig zu Ihrer Veranstaltung zu „Werten“eingeladen, damit ich “ mit diskutieren“
und „meine Meinung äußern“ kann. Dann aber wollten Sie meine Meinung gar nicht hören und haben sogar meinen Vorschlag abgelehnt, aus Papst Franziskus´ Schrift evagelii gaudium zu zitieren, in welcher er uns konsumistischen Bewohnern der Wohlstandszonen den Verrat an den christlichen und humanitären Grundwerten vorwirft.
Ihr Verhalten darf man wohl als beleidigend, als „Verarschung“ betrachten, einer meiner Freunde meint sogar, Sie hätten mich damit „gedemütigt“.
Vor diesem Hintergrund und eingedenk der Tatsache, dass es hier ausschließlich um gravierende gesellschaftspolitische Probleme und nicht etwa um intime persönliche geht, fühle ich mich zur
Veröffentlichung unseres „Mailwechsels“ berechtigt. Zumal ich mir sicher bin, dass mein Geltungsbedürfnis dabei nur eine sekundäre Rolle spielt.
Ihre Behauptung, ein tiefer Glaube an Jesus Christus sei die „beste Medizin gegen Antisemitisnus“, ist längst durch die Wirklichkeit widerlegt. Der Völkermord an den Juden und der Vernichtungskrieg im Osten wurden doch von abertausend katholischen und vor allem evangelischen Christen durchgeführt, die sich zum großen Teil sicher für gläubig hielten: Im damaligen deutschen Reich waren 2/3 der Einwohner evangelisch, ein knappes Drittel katholisch und nur 5 % waren andere, Juden, Atheisten, etc. Auch was Luther betrifft: Entweder lässt sich sein antisemitischer Aufruf zum Mord an Juden mit dem Glauben an Jesus Christus vereinbaren, oder er war eben kein gläubiger Christ. Was denn nun?
Aber dazu schweigen die Kirchen und auch Sie bleiben lieber stumm und verstoßen gegen Jesu Aufforderung zur klaren Stellungnahme, auch was die unzähligen abscheulichen Verbrechen an den Heimkindern betrifft, die ja mehrheitlich von Priestern begangen wurden. (In Australien in 4000 Einrichtungen!) Glaubten diese geweihten Täter nun an Jesus Christus oder nicht?
Angesichts des Schweigens und der Ausflüchte der Kirchen und der auch in Ihrer Veranstaltung zu Tage getretenen Unfähigkeit zur Diskussion wundert es mich nicht, dass unter den Teilnehmern kaum jüngere Leute waren. Das wäre sicher anders gewesen, wenn Papst Franziskus über Werte und Werteverlust gesprochen und sicher auch eine kritische Diskussion zugelassen hätte. Aber der ist ja offenbar – wie heute in der Zeitung zu lesen ist – im Vatikan von „Verschwöreren und „Verrätern“ umgeben, die ihm wie z.B. Kardinal Müller hasserfüllt die theologische Kompetenz absprechen und sich so abfällig über seinen bescheidenen Lebensstil äußern, dass Franziskus von einem „Krebsgeschwür“ in der Kurie spricht. Ich glaube, Sie haben deutlich gemacht, auf welcher Seite Sie in diesem Konflikt stehen.
Mit wenig optimistischen Grüssen, Lothar Gothe